Trinkhallen im Ruhrgebiet

von Marie Wilbert

Die regionalspezifische Bedeutung von Trinkhallen im Ruhrgebiet und deren mediale Aushandlung


„Das ist ein Treffpunkt. Das ist ein Ort, wo man sich zuhause fühlt. Das ist natürlich auch was wie ein Kulturverein!“

So beschreibt mir Uwe seine Trinkhalle in Essen, die er seit 30 Jahren besucht. Für ihn stellt die Trinkhalle mehr als nur Konsum und den flotten Sonntagseinkauf dar, sondern löst Heimatgefühle aus und bildet einen Zwischenraum, der Arbeit, Familie sowie Freunde verbindet.

Doch dies war nicht immer so. In den 1970er Jahren standen Trinkhallen oftmals in der Nähe von Werkausgängen großer Industrieunternehmen oder im Falle des Ruhrgebiets neben Zechenausgängen für die Arbeiterschaft.[1] Für wenig Geld konnte der eigene Durst gelöscht werden und Konsumgüter wie Zigaretten waren schnell und unkompliziert zu erwerben. Trotz postfordistischer Städteplanungen in den 1970er Jahren blieb die Trinkhalle bis heute erhalten. Postfordistische Städteplanung bezieht sich hierbei auf die Optimierung sowie Aufwertung des öffentlichen Raumes in den 1970er Jahren. Das Ziel war eine Diversifikation und Steigerung der Produktion und Qualität.[2] In all ihren Widersprüchen zu diesen Formen der Rationalisierung, Flexibilisierung und Perfektionierung des Konsums scheint die Trinkhalle ihre Berechtigung im urbanen Leben zu haben. Gerade in Zeiten einer enormen Rationalisierung und Ästhetisierung von Arbeit, in der kulturelle, lokale Einrichtungen in ihrer Effizienz und Nutzbarkeit hinterfragt werden, stellt die Trinkhalle ein widerständiges Phänomen dar.[3] Oliver Kirst, der seine Diplomarbeit über Frankfurter Wasserhäuschen verfasste, schreibt dazu: „[…] der Wunsch nach sozialem Kontakt kann sogar der einzige Grund sein, zu einem Kiosk zu gehen.“[4] Doch genügt das, um die Menschen am Phänomen Trinkhalle festhalten zu lassen?

Dieser Artikel soll erfragen, welche regionalspezifische Rolle die Trinkhalle heute im Ruhrgebiet hat. Durch den #TagderTrinkhalle im Ruhrgebiet tauchten auf Instagram plötzlich Unmengen Fotografien von Trinkhallen auf. Durch eigene Nostalgiegefühle gelenkt und eine neu geweckte Neugier ergab sich mir die Frage: Wieso gibt es eigentlich immer noch Trinkhallen und was steckt hinter diesem regionalspezifischen Phänomen?

Das methodische Vorgehen gestaltete sich in dieser Forschung durch teilnehmende Beobachtungen, informelle Gespräche und Interviews. Dabei wurden verschiedene soziale Praktiken im Zusammenhang mit der Trinkhalle deutlich. Trotz eines heterogenen Publikums fand sich ein gemeinsamer Konsens: Trinkhallen bedeuten Heimat. Die alltagskulturellen Umgangsweisen, sowie der Konsum lokaler Produkte, stellten den regionalspezifischen Charakter der Trinkhalle deutlich heraus – regionalspezifisch im Sinne einer visualisierten „Lokalität“, welche sich immer wieder auf das Ruhrgebiet oder die Zechenarbeit beruft. Sei es das lokale Bier aus der Stadtbrauerei oder ein Nachbarschaftsgefühl, das durch ein ständiges „Hallo“ oder Ausdrücke wie „Na alter Freund, biste auch wieder da?“ deutlich hervorstach.

Durch meine Forschung im Ruhrgebiet, spezifisch in der Stadt Essen, stellte sich deutlich heraus: Trinkhallen sind nicht nur kleine Geschäfte und Reminiszenz an die industrielle Geschichte des städtischen Raumes im Ruhrgebiet. Ganz im Gegenteil – das Gespräch mit Uwe zeigte, dass Trinkhallen als „Raumtyp“ innerhalb des urbanen Lebens „Orte des Zusammenkommens“ darstellen, obwohl sie innerhalb einer postfordistischen Stadt ihren „Nutzen“ verloren zu haben scheinen und dem modernen Anspruch an Effizienz widersprechen.[5] Er als jahrelanger Trinkhallengänger erklärte dies folgendermaßen:

 „Dann trifft man den ein oder anderen, wie jetzt den Hakan. Mittlerweile sind wir gute Bekannte und trinken oft ein Feierabendbier vor der Trinkhalle.“

Sätze oder Bemerkungen wie diese nahm ich in der Trinkhalle oft wahr und beobachtete ein zustimmendes Nicken von anderen Trinkhallengänger*innen. Schon vor meiner Forschung nahm ich an, dass nicht mehr nur Arbeiter*innen der industriellen Branche die Trinkhalle besuchen. Ebenfalls hatte ich die Annahme, dass diese ein wichtiger Bestandteil der Identitätskonstruktion der Akteur*innen innerhalb des urbanen Raumes sein würde. Der Frage nachgehend, wer überhaupt in die Trinkhalle geht, konnte ich feststellen, dass sowohl Kinder wie auch Jugendliche, Eltern, Großeltern und alleinstehende Menschen, die Trinkhalle besuchten. Verschiedene Gespräche zeigten: „Das Alter spielt hier keine Rolle. Jeder findet seinen Platz.“ Trinkhallen bieten somit eine Schnittstelle für verschiedene Gruppierungen, welche einerseits Erinnerungen an die industrielle Vergangenheit des Ruhrgebietes teilen, eine Kindheitsnostalgie verfolgen oder die Trinkhalle als Raum für neue Begegnungen nutzen. Oliver Müller beschreibt dies in seinem Beitrag „Räume der Kindheit“ von 2019 als „Resistenz gegen die Imperative der Ästhetisierung“[6]. Trinkhallen erschaffen ihre eigene Ästhetik, wie es scheint, in dem sie zu einem „Memorialen Raum“ innerhalb des Ruhrgebiets werden. Wenn man, wie Wietschorke schreibt, „Erinnern“ als soziales Phänomen begreift, wird das „Erinnern“ am Ort der Trinkhalle zu einem kollektiven Phänomen. Es werden eigene Erinnerungen ausgetauscht und Erinnerungen weitergegeben. Es findet eine intersektionale Kommunikation statt, welche – ausgelöst durch die räumliche Erfahrung der Trinkhalle – zu einem rituellen Alltagsphänomen wird.[7]

Trotz eines Austauschens von Erinnerungen herrscht ein deutliches Bewusstsein für Veränderung. Das homogene Bild der Arbeiterschaft als typisches Trinkhallenpublikum wurde abgelöst: „Ja, hat sich viel geändert“, so Uwe:

„Wir haben sehr viel mehr verschiedene Gesichter hier. Die Gesichter ändern sich über die Zeit, früher waren es mehr die klassischen Arbeiter oder Säufer, mittlerweile ist es ja Multi-Kulti hier.“

Es wird deutlich in dem Gespräch, dass dies jedoch kein großes Problem zu sein scheint, denn man versteht sich zwar, so Uwe, es herrscht trotzdem eine Akzeptanz des „Fremdseins“. Man erzählt sich von seinen Problemen, wird jedoch nicht unbedingt zum Geburtstag eingeladen. Diese kommunikative Funktion der Trinkhalle steht dabei deutlicher im Vordergrund als die „Nützlichkeit“ oder die ästhetische Rolle der Trinkhalle. So erzählt mir Uwe weiterhin:

„Es ist immer wichtig für mich, nicht nur zuhause zu sitzen, sondern in meiner Trinkhalle bisschen Zeit zu verbringen, um den Stadtteilflair einzuatmen und mich ein bisschen zuhause zu fühlen (…). Das ist mir sehr wichtig.“

Oliver Müller beschreibt diesen Aspekt des Kiosks als „transitorischen Raum“. Es gibt ein Wechselspiel zwischen sozialer Nähe und Distanzierung zu den „Anderen“.[8] Auch durch meine Forschung wurde einerseits der pluralistische Charakter der Erfahrung innerhalb der Trinkhalle deutlich, und andererseits die individuelle urbane Erfahrung der Einzelnen sichtbar.[9] Jeder bringt die eigene Geschichte und den individuellen sozialen Hintergrund in die Trinkhalle mit. Dabei konnte ich durch meine teilnehmende Beobachtung und durch kurze informellen Gespräche deutliche Ritualisierungsprozesse erkennen. Die Trinkhalle wird durch den täglichen Besuch zu einem elementaren Bestandteil der alltagskulturellen Lebenswelten der Akteur*innen. Uwe kommt hier jeden Tag hin, trinkt hier jeden Tag das gleiche Bier und weicht nur selten von dieser Verhaltensstruktur ab. Diese soziale Erfahrung wird ritualisiert und Teil seines sozialen Habitus. Spannend bei der Forschung war die Erkenntnis, dass die eigene soziale Position im Raumtyp Trinkhalle keine große Rolle zu spielen scheint. Es schien, als wäre die Trinkhalle der „safe space“ für Menschen aus jeglicher sozialen Position, da die relationale Verbindung der Akteur*innen innerhalb eines hierarchischen Systems keine Rolle zu spielen scheint. Die Trinkhalle scheint somit ein Überschneidungsraum von sozialen Wirklichkeiten zu bilden. Wenn man sich auf Pierre Bourdieus Konzepte der „sozialen Position“ bezieht, kann man ebenfalls argumentieren, dass die „Ebene der Lebensstile“ sich innerhalb der Trinkhalle überlagern. Kurze informelle Gespräche unterstrichen diese These:

„Mir ist egal, wer hier steht oder warum. Hauptsache die Menschen fühlen sich wohl. Hauptsache die Menschen akzeptieren sich!“

Der Konsum, die soziale Interaktion sowie die soziale Position scheinen sich an diesem Ort so stark zu überschneiden, dass ihnen durch diesen Pluralismus keine Aufmerksamkeit geschenkt wird.[10]

#Trinkhalle – Kindheitsnostalgie trifft Sepiafilter

Doch wie steht diese fast schon „emotionale Nachbarschaft“[11] und Aushandlung von nostalgischen Heimatgefühlen in Bezug zu einer globalen Social-Media Plattform wie Instagram? Nach meiner Forschung schien mir diese Verbindung zunächst widersprüchlich. Ihr Bestand als lokaler Treffpunkt bildete zunächst, meinem Empfinden nach, eine Disparität zum „globalen“ Rahmen von Instagram. Der Weg vom Trinkhallen-Stehtisch und direkter sozialer Interaktion hin zur „digitalen Welt“ von Instagram schien mir gerade nach meinen Forschungstagen sehr fern.  

Doch bei genaueren Untersuchungen verschiedener Hashtags wie #Trinkhallenkultur #Trinkhallen oder sogar #TagderTrinkhalle wurde mir schnell bewusst, dass eine mediale Aushandlung von Regionalität auch in Bezug auf die Trinkhalle existiert. Trinkhallen, begriffen als „heterotope Gegenorte“[12] innerhalb einer globalisierten und digitalisierten Gesellschaft, werden auf Instagram in Verbindung mit einem sozialen Netzwerk gestellt, auf welcher genau diese als Symboliken für Regionalität und Lokalität genutzt werden.  

Auch wenn ich bei meiner Forschung feststellen konnte, dass ältere Generationen die Plattformen nicht unbedingt nutzen, scheint die emotionale Verbindung zu Trinkhallen auch auf sozialen Plattformen hervorgerufen zu werden. So erzählt mir Uwe:

„YouTube mag ich, dass sehe ich immer gerne. Da war auch mal meine Trinkhalle. Da sieht man immer, dass es Anderen auch so geht. Das andere sich auch in ihren Trinkhallen Zuhause fühlen.“

Doch nicht nur die filmische Inszenierung bei YouTube spielt dabei eine Rolle, auch bei Instagram finden sich Bilder, die die „eigene“ Trinkhalle darstellen. Oft stehen die Fotos im Zusammenhang mit den Hashtags #Ruhrgebietsromantik, #Kindheit oder #Heimatgefühl und werden durch Bildbearbeitungen mit Sepia-Filtern „nostalgisch“ kontextualisiert. Das Text-Bild Verhältnis verdeutlicht, dass die Trinkhalle als Symbolik die eigene lokale Identität und Beziehung repräsentiert. Narrative, wie der tägliche Gang zur Trinkhalle, sei es das Bier oder die gemischte Tüte als Kind, tauchen dabei immer wieder auf. So schreibt eine Userin unter ein Bild einer Trinkhalle in Essen, „Eine gemischte Tüte mit Lakritz für 2 Euro und 3 rote Schnüre, bitte“ und zitiert das „Ich“ ihrer Kindheit. Das Hashtag darunter lautet: #gemischteTütefürneMark und #Heimatgefühle. Diese mediale Aushandlung von Trinkhallen verdeutlicht die symbolische Kraft der Trinkhalle. Geschichten, die vor Ort erzählt wurden, ritualisierte Gänge zur Trinkhalle und das heimatliche Gefühl, wenn man eine Trinkhalle betritt oder gar sieht, werden somit auf Instagram aufgegriffen und von Akteur*innen symbolisch zur Repräsentation der eigenen regionalen Beziehung genutzt. Auch hier hat damit die Trinkhalle eine kommunikative Funktion eingenommen, die eine Referenz zur Trinkhalle als „Gegen-Ort“ einnimmt. Damit kann man das „Posten“ der Bilder in eine direkte Beziehung mit dem täglichen Gang in die Trinkhalle bringen: Das „Posten“ weist auf ein alltagskulturelles Ritual (den Gang zur Trinkhalle) hin, welches sich gegen eine Flexibilisierung und Ästhetisierung des Alltags- und der Arbeitswelt richtet. Die Akteurin verfolgt damit eine indirekte Praktik des Widerstandes, in dem sie innerhalb eines multimedialen, hierarchischen Systems der Social-Media Welt auf einen alltäglichen Ort des Zusammenkommens referiert, welcher sich jeglicher Optimierung und Digitalisierung des Alltags entzieht.

Der Eindruck, dass Trinkhallen nicht mehr nur zum reinen Konsum dienen, sondern lokale Kommunikationsräume ausbilden, wird durch das Hashtag #TagderTrinkhalle und dem dahinterstehenden Konzept verstärkt. Unter diesem Hashtag wurden Bilder aus verschiedenen Städten des Ruhrgebietes gepostet, nachdem am 25.08.2018 fünfzig verschiedene Buden Streetart, Kunst und Musik im Kontext des Tages der Trinkhalle organisierten. Das Coolibri Magazin aus Bochum kündigte den Tag mit einem Bild einer Trinkhalle aus Mülheim an der Ruhr an und schrieb darunter: „Schließlich ist die #BudeKult!“. Die Trinkhalle wurde hier aus ihrem ursprünglichen, rein zweckmäßigen Kontext herausgehoben, in dem sie als Symbolik für das Ruhrgebiet genutzt und damit zum Aufhänger eines regionalen Festes wurde. Die visuelle Symbolik der Trinkhalle wird somit auf Instagram von Akteur*innen angeeignet, um regionale Bezüge zu verdeutlichen aber auch die eigene lokale Identität medial zu repräsentieren.

Ob nun also am Stehtisch in der Trinkhalle oder auf der Social-Media Plattform Instagram: Trinkhallen besitzen einen Kultstatus als regionale Bezugsorte. Sie sind Orte der „Menschlichkeit“[13], die inmitten einer fortschreitenden Anonymisierung sowohl in einer städtischen Gemeinschaft wie auch auf Social-Media Plattformen eine heimatbezogene Nostalgie hervorrufen und auf eine Kindheit im Ruhrgebiet referieren.


Bildrechte: Reinaldo Coddou H.. „Kiosk  Müller Bochum“ (Bildreihe: Treffpunkt Trinkhalle)
URL: http://www.treffpunkt-trinkhalle.de.


[1] Kirst, Oliver: Wasserhäuschen – Vom Babbeln mit Bier am Büdchen – Stadtentwicklung im Zeichen der Trinkhalle. Frankfurt a. M. 2004, S. 28.
[2] Müller, Oliver: Kiosk. In: Jürgen Hasse/Verena Schreiber: Räume der Kindheit. Ein Glossar. Bielefeld 2019, S. 185-191, hier S. 186.
[3] Hier interessant: Sutter, Ove/Flor, Valeska/Schönberger, Klaus: Eine Einleitung und ein Plädoyer für die Überwindung der Dichotomisierung von „Sozialkritik“ und „Künstlerkritik“. In: Ove Sutter/Valeska Flor: Ästhetisierung der Arbeit. Empirische Kulturanalysen im kognitiven Kapitalismus. S. 7-29, hier S. 10. Online veröffentlicht unter: https://www.kulturanthropologie.uni-bonn.de/abteilung/mitarbeiterinnen/jprof.-dr.-ove-sutter/aesthetisierung-der-arbeit (Stand: 20.07.2019).
[4] Kirst, Oliver: Wasserhäuschen (2004), S. 28.
[5] Müller, Oliver: Kiosk (2019), S. 186.
[6] Ebd.
[7] Vgl. Wietschorke, Jens (Hg.): Kirchenräume in Wien. Architektur in der Kulturanalyse. In: Ethnographie des Alltags. Schriften des Instituts für Europäische Ethnologie Wien Band 4. Wien 2019, S.191 ff.
[8] Müller, Oliver: Kiosk (2019), S. 189.
[9] Ebd.
[10] Vgl. Bourdieu, Pierre: Klassenschicksal, individuelles Handeln und das Gesetz der Wahrscheinlichkeit. In: Ders. et al. (Hg.): Titel und Stelle. Über die Reproduktion sozialer Macht. Frankfurt a. M. 1981, S. 169-226.
[11] Kirst, Oliver: Wasserhäuschen (2004), S. 52.
[12] Müller, Oliver: Kiosk (2019), S. 186.
[13] Kirst, Oliver: Wasserhäuschen (2004), S. 59.