von T. Schmidt
Im Sommer 2018 besuchte ich eine Kinovorstellung mit dem Titel „Pottoriginale-Roadmovie“ im Herzen des Ruhrgebiets in Bochum. Ich war damals sehr neugierig, was mich erwarten würde. Nicht nur weil der Film zwar eine fiktive Handlung hat, und fast ohne Drehbuch und großes Budget entstanden ist, sondern auch, weil ich im Vorfeld mitbekommen hatte, dass der Regisseur Gerrit Starczewski den Film wie folgt beschrieb:
„(Es ist) ein Kultfilm. Weil: die Leute werden den entweder total geil oder total scheiße finden. Und solche extremen Sachen bleiben den Menschen viel länger in Erinnerung. Und es ist ein Heimatfilm, eine Liebeserklärung ans Ruhrgebiet und die unglaublichen Typen, die es hier noch gibt. Da findet jeder Zuschauer mindestens Einen, mit dem er oder sie sich identifizieren kann.“[1]
Die Annahme des Regisseurs bewahrheitete sich – auch mir blieb der Film in Erinnerung. Vielleicht, weil ich selbst im Ruhrgebiet aufgewachsen bin; vielleicht aber auch, weil ich an dem Abend der Filmvorführung genau diese Spaltung zwischen totaler Ablehnung und großer Begeisterung bei den Zuschauer*innen beobachten konnte. Ich fing an, im Internet zu recherchieren, und fand auch im medialen Diskurs diesen Widerspruch wieder. Während einige den Film aufgrund von stereotyper und klischeehafter Darstellung der dargestellten Menschen aus dem Ruhrgebiet als „Pottoriginale“ kritisierten,[2] wurde er andererseits als DER Heimat- und Kunstfilm schlichtweg verhandelt.[3] Wie passt dieser Widerspruch damit zusammen, dass Zuschauer*innen sich mit den „Pottoriginalen“ identifizieren können sollen? Was ist das Besondere an den „Pottoriginalen“, dass sie so polarisieren können?
Wie konstruiert der Film die kulturelle Figur[4] der „Pottoriginale“?
Der Regisseur selbst beschreibt den Film als „eine Mischung aus Manta Manta, Bang Boom Bang, diversen Auswärtsfahrten mit dem VfL Bochum und improvisiertem Wahnsinn“.[5] Eine aus den 1970er stammende Ruhrgebietslegende wird aufgegriffen, die Handlung weitergesponnen und als Roadmovie umgesetzt. Man trifft sich als „Pottoriginal“ in der Pommesbude, findet im Fußballstadion einen Schatz (wo auch sonst im Ruhrgebiet?), kehrt in Kneipen ein und fährt Manta oder Moped. Was Aussehen oder Kleidung angeht, halten sich die dargestellten „Originale“ stark an die 70er und 80er: Blondierte lange Haare, Schnauzbart, wahlweise in Lederhosen und Manta-Stiefeln, oder in Jeans und Kutte. Kippe und Bier sind ständige Wegbegleiter. Sprüche im Dialekt werden raus gehauen, man „steht seinen Mann“ und hält zu seinem Kumpel. Überall gegenwärtig: Fußball und der VfL Bochum, der Verein, dem die fast ausschließlich männlichen „Pottoriginale“ ihr Herz geschenkt haben.[6] Hier lässt sich gut beobachten, wie die kulturelle Figur der „Pottoriginale“ im Film konstruiert wird: über Isolierung und Dekontextualisierung, Naturalisierung, sowie Ethnisierung und Folklorisierung. Dies meint, dass die gezeigten Akteur*innen als natürliche Charaktere dargestellt werden, die es immer schon so gab und so auch heute noch im Ruhrgebiet existieren. Der gesellschaftliche Kontext der einzelnen Charaktere, sowie ihre gemeinsame Geschichte, welche ihre Handlungen bedingen, geraten aus dem Fokus. Das Ruhrgebiet wird im Film nicht als konflikthafte und komplexe Region, „sondern als kulturelles Universum menschlicher (Pott-)Originale imaginiert“.[7] Da wundert es nicht, dass der Film aufgrund von Klischees kritisiert wird. Aber reicht es wirklich aus, einfach nur diese verzerrte Darstellungsweise anzuprangern? Wo hört das Klischee auf und wo fängt die Wirklichkeit an? Besonders an diesem Film wird deutlich, wie schwierig diese Frage zu beantworten ist. Die „Pottoriginale“-Figuren im Film sind keine „echten“ Schauspieler*innen, sie haben kein Drehbuch-Text. Somit kann die Konstruktion der „Pottoriginale“ (kulturelle Figur) auch nicht auf eine reine mediale Klischeeproduktion und Fremdzuschreibung (Etikettierung) zurückgeführt werden. Sie entsteht auch, und das ist wichtig hervorzuheben, über die Selbstinszenierung bzw. Selbsttypisierung (Stilisierung[8]) der Ruhrgebietsbewohner*innen selbst.[9] Den ganzen Prozess, in dem kulturelle Figuren wie die der „Pottoriginale“ entstehen, verbreitet oder umgedeutet werden können, kann man aus kulturanthropologischer Perspektive als Figurierung[10] bezeichnen.
Zwischen Fußball und Werten: Zur Stilisierung als „Pottoriginal“
Um der Figurierung der „Pottoriginale“ auf die Spur zu kommen, traf ich an einem sonnigen Sonntagmorgen Anfang April zwei der im Film dargestellten „Pottoriginale“, sowie den Regisseur Gerrit Starczewski in einer Kneipe nahe dem Bochumer Hauptbahnhof, um sie einen Tag lang zu einem Spiel des VfL Bochum zu begleiten.[11] Ich wurde nicht nur mit offenen Armen begrüßt, sondern alle Beteiligten gestatteten mir auch ganz unkompliziert Interviews. Besonders spannend war dabei für mich das self-typing, also die Selbstinszenierung als „Pottoriginale“, da es das individuelle Verhältnis, die Nähe und Distanz zur kulturellen Figur der „Pottoriginale“ beobachten lässt. Besonders wichtig war mir hierbei die Stilisierung, welche bedeutet, „sich selbst oder eine fiktionale Figur als Mitglied einer sozialen Kategorie zu präsentieren und zu diesem Zweck spezifische sprachliche und sonstige semiotische Mittel einzusetzen“.[12] Bei meiner Beobachtung fragte ich mich also: Wie sieht das Selbstverständnis als „Pottoriginal“ im alltäglichen Leben der Akteur*innen des Films aus?
Außerhalb des Films, in ihrem Alltag, ließen sich schnell verschiedene Formen der Stilisierung als „Pottoriginal“ beobachten. Ausschnitt aus einem Interview auf die Frage, ob ein dargestelltes „Pottoriginal“ sich auch so versteht:
„Ja sicher oder watt. Weil ich bin ja so, äh, im Film und im Leben. Ich geb‘ mich, wie ich bin oder watt, ich veränder‘ mich nicht. Ich sach dat, was ich denke oder watt. Wir haben ja auch kein Drehbuch, deshalb ist das ja auch klasse oder watt, dass wir eigenständig reden, dass so, wie wir denken oder watt. Und äh, das Ruhrgebiet äh, ich bin ja geboren hier, oder watt ne… So datt verkörper‘ ich ja teilweise auch oder watt“.[13]
Dabei fällt auf, wie ich auch immer wieder in meiner Beobachtung feststellen konnte, dass das „frei Schnauze“-Reden (ohne groß über das Gesagte nachzudenken und das „sich nicht Verändern“) von großer Bedeutung für die Selbstinszenierung als „Pottoriginal“ sind. Vor allem man selbst zu sein, auch wenn man aneckt, egal in welcher Situation, ob im Film oder im alltäglichen Handeln, wird immer wieder hervorgehoben. Der Dialekt hat dabei auch in der alltäglichen Kommunikation einen hohen Stellenwert. Zudem spielt der Fußball eine große Rolle zur Stilisierung. Dies lässt sich an folgendem Ausschnitt beobachten:
„Also die Typen, die ich zeige, verkörpern Beides. Die sind sowohl Ruhrgebiet, als auch natürlich halt auch Fußball. Und ich finde ’nen typischer Ruhrgebietler geht nicht ohne Fußball. Also dat ist zwangsläufig, weil an jeder Straßenecke hast du irgendeinen Verein, du hast nirgendwo so ’ne Dichte auch an Amateursvereinen in Deutschland, wie halt quasi im Ruhrgebiet. Weil du hast alle paar Blöcke irgend ’nen Fußballplatz. Du kannst im Ruhrgebiet dich nicht sozialisieren, wenn du nicht irgend ’nen Bezug zum Fußball hast und selbst, wenn du Tochter bist und nur dein Vatter ist irgendwo im Verein aktiv. Also Ruhrgebiet und Fußball, das ist miteinander verbunden“.[14]
An dieser Aussage, und an zahlreichen weiteren Interviewausschnitten und Beobachtungen, kann aufgezeigt werden, dass der Fußball in Kombination mit bestimmten alltäglichen Praktiken, wie beispielsweise die regelmäßige Teilhabe an Heim- und Auswärtsspielen des Lieblingsvereins, das Aufwachsen in einer Fangemeinschaft, sowie die Treue zum Lieblingsverein zur Stilisierung als „Pottoriginal“ dient.
Weiterhin zeigen die beiden Interviewausschnitte, dass die Stilisierung der Akteure[15] als „Pottoriginale“ über den Bezug zu Dialekt, Fußball und insbesondere über bestimmte Werte wie Ehrlichkeit, Direktheit, Selbstironie, Verlässlichkeit (Treue), Gemeinschaft sowie Beständigkeit vorgenommen wird. Was mich jedoch verwunderte war die Beobachtung, dass die Stilisierung über das Äußere, also die Zugehörigkeit über ästhetische Merkmale wie Kutte, Schnäuzer etc. zur kulturellen Figur der „Pottoriginale“ keine große Rolle für das Selbstverständnis als „Pottoriginal“ im Vergleich zur Darstellung im Film spielte. Dies reflektiert auch ein Akteur des Films selbst, auf die Frage, warum er für den Film als „Pottoriginal“ ausgesucht wurde:
„Mhmm ja… der (Regisseur) kannte mich schon früher. Hat er mich beobachtet, in der Ostkurve oder watt, ne. Und ja gut, weil ich auffällig aussehe oder watt und dann kam er wohl darauf oder watt. Er hatte vorher schon ’nen Auge auf mich geworfen, aber mich nicht angesprochen oder watt.“[16]
Im Gegensatz zu den in diesem Abschnitt herausgearbeiteten Stilisierungsmerkmalen der Akteur*innen zeigt sich in diesem Interviewausschnitt die anscheinend besondere, ästhetische Bedeutung der kulturellen Figur der „Pottoriginale“ für den Film.
Zwischen Säufer-„Asi“ und „Verkörperung des alten Ruhrgebiets“: Etikettierung der „Pottoriginale“
Die Selbstinszenierung ist jedoch nicht nur ein Stilisierungsprozess, sondern ein komplexes Wechselspiel zwischen Stilisierung und Etikettierung, also zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung. Um mir den Figurierungsprozess der kulturellen Figur der „Pottoriginale“ umfassender anzuschauen, reichte es mir daher nicht aus, nur die mediale Etikettierung über den Film näher zu betrachten. Ich wollte auch die Fremdzuschreibungen beobachten, welchen die Akteure im Alltag ausgesetzt sind, um mich so der Frage zu nähern, welche Identifikationsmöglichkeiten die kulturelle Figur der „Pottoriginale“ sowohl für die Akteure selbst, als auch für andere Menschen bietet. Dafür nutze ich überwiegend meine teilnehmende Beobachtung im Stadion sowie Interviews, die ich mit VfL-Fans während der Halbzeitpause geführt habe.
Zunächst ist es wichtig, herauszustellen, dass die im Film als „Pottoriginale“ dargestellten Akteure nicht nur über den Film und zwei Dokumentationen einer Etikettierung unterliegen, sondern auch über die Social-Media Darstellung[17], bei der einzelne Bilder/Sequenzen der Typen gezeigt, hundertfach heruntergeladen, geliked oder kommentiert werden. Ebenso konnte ich beobachten, dass diese hohe Aufmerksamkeit auf die Akteure auch im alltäglichen Leben sichtbar wurde. Ob sie auf dem Weg zum Stadion mit ihrem Spitznamen angesprochen, per Handschlag von VfL-Fans begrüßt, oder von Kindern nach einem Selfie gefragt wurden: Deutlich wurde, dass sie als dargestellte „Pottoriginale“ einem großen Interesse unterliegen und teilweise im Fokus der allgemeinen Kommunikation stehen,[18] die durch Fremdzuschreibungen gekennzeichnet ist: So tuschelte eine Frau in der Halbzeitpause des Fußballspiels hinter vorgehaltener Hand ihrem Mann zu, dass sie sich darüber wundere, dass einer der Akteure des Films Wasser statt Bier im Stadion trinke „Abber siehste ma, der trinkt Wasser, datt hätt ich ja nicht gedacht“.[19] Auch in einem Interview, das ich in der Halbzeitpause mit einer Gruppe von VfL-Fans, die Ende Zwanzig waren, führte, äußerte sich ein junger Mann zum Alkoholkonsum der Akteure:
„Man habe erst letztens mit ‚Tanki‘ zusammen in der Bahn zu einem Auswärtsspiel des VfL gesessen. Immer wäre er besoffen und hätte trotzdem ein Bier in der Hand. Und ‚Jesus‘ würde einem im Speziellen leid tun. Wie kann man sich nur gegen seine Frau und für den Fußballverein entscheiden? Jetzt sei er allein und habe nichts anderes“.[20]
Nicht nur die Zuschreibung übermäßigen Alkoholkonsums konnte ich häufig durch meine Interviews beobachten, auch fiel immer wieder bei verschiedensten Interviewpartner*innen die Äußerung, dass die als „Pottoriginale“ dargestellten Akteure „schon recht asi“ seien.[21] Dies wurde dann entweder am erhöhten Alkohol- und Zigarettenkonsum, oder generell am Lebensstil und der „Fixierung“ auf den Fußball festgemacht. Partiell gekennzeichnet durch Mitleid (siehe Interviewausschnitt) führt dies, meiner Ansicht nach, zu einer Zuschreibung von prekären Lebensverhältnissen, die jedoch nicht weiter thematisiert werden, sondern auf Ebene des Diskurses von falscher und richtiger Lebensweise verbleiben.
Auch aus Vereinsperspektive wird laut Regisseur Gerrit Starczewski den dargestellten „Pottoriginalen“ eine ähnliche Zuschreibung zuteil:
„Weil der Verein dahin geht und sagt, die Typen, die ich zeige, wie den Tankwart und VfL-Jesus sind in deren Augen Asis. Die schämen sich dafür und damit siehst du auch schon wieder wie sich Fußball und damit auch Identität verändert hat. Weil diese Typen stehen für Identität, die stehen für den kernigen Fußball der 70er, 80er. Da war Fußball auch immer nen Stück weit prollig. Und die Leute haben alle gerne gesüppelt und das war Fußball. Das war das, was heute immer noch so glorifiziert wird. Aber die Vereine gehen ja hin und stellen sich ja da ganz anders auf. Die wollen weg im Grunde von diesen Oldschool-Fans.“[22]
Der Verein etikettiert, laut Starczewski, die Akteure ebenso als „Asi“ und „prollig“. Im Gegensatz zu dem ausgesprochenen Mitleid der Interviewpartner*innen wird dies hier jedoch mit Scham besetzt. So lässt sich, meiner Meinung nach, schlussfolgern, dass die als „Pottoriginale“ dargestellten Akteure durch Fremdzuschreibungen wie „Asi“ oder „prollig“ in prekären Lebenssituationen festgeschrieben werden. Dadurch können sich problematische Subjektpositionen für die Akteur*innen entwickeln, bei denen ihre Anerkennung und Würde auf dem Spiel stehen kann.
Auf der anderen Seite verdeutlicht jedoch auch das Zitat des Regisseurs, dass die „Pottoriginale“ nicht nur negativen Zuschreibungen unterliegen. So stellt Starczewski heraus, dass die Akteure als „Oldschool“-Fans glorifiziert werden. Auch in meinen Interviews konnte ich ähnliche Zuschreibungen beobachten. Ein Mann Ende Zwanzig meinte, dass die dargestellten Akteure der „Pottoriginale“ die Verkörperung des alten Ruhrgebiets seien, andere fassten diese als „Ruhrgebietsikonen“ auf. In diesem Zusammenhang erzählte mir ein Mädchen Mitte Zwanzig in der Halbzeitpause des Fußballspiels, dass sie die dargestellten Akteure als „Pottoriginale“ mit Nostalgie verknüpfen würde. Diese würden sie an die alte Zeit des Ruhrgebiets erinnern, auch ihre Oma würde noch in einer Zechensiedlung leben. Nun sei ja alles anders, man selbst könnte sich nicht mehr so stark damit (mit den „Pottoriginalen“) identifizieren, außer in Hinblick auf die alten Erinnerungen der Großeltern.[23]
Zwischen Etikettierung und Stilisierung: Ein Fazit zum Widerspruch der Figur „Pottoriginale“
Was macht also die „Pottoriginale“ so besonders? Um diese Frage abschließend erörtern zu können, muss meiner Ansicht nach die Frage beantwortet werden, was verschiedene Akteur*innen mit der Figur der „Pottoriginale“ anfangen können. Es lässt sich beobachten, dass die Selbstinszenierung als „Pottoriginal“ für die dargestellten Akteur*innen des Films eine verbesserte Subjektposition mit sich bringt. Sind sie sonst durch Fremdzuschreibungen wie „Asi“ und „prollig“ in prekären Lebensverhältnissen festgeschrieben, erlaubt die Selbstinszenierung als „Pottoriginale“ ihnen nicht nur durch die Fremdzuschreibung als „Ruhrgebietsikone“, Würde und Anerkennung zu erfahren (sie werden wie Stars in der Fußballszene behandelt), sondern auch auf negative Fremdzuschreibungen wie erhöhten Alkoholkonsum etc. durch Umdeutung und offener Selbstpositionierung anders zu reagieren. So wird der erhöhte Alkoholkonsum beispielsweise damit legitimiert, dass Bergmänner auch immer nach dem Pütt in die Kneipe gegangen seien, und dies daher etwas ganz Normales sei.[24]
Ähnliches zeigt auch Moritz Ege in seiner Arbeit „Ein Proll mit Klasse“[25], in der er sich im weitesten Sinne mit Prekarisierungserfahrungen beschäftigt. In Bezug auf gesellschaftliche Machtverhältnisse unterscheidet er beispielsweise zwischen Akteur*innen, die „habituell“ gar nicht anders können als „prollig“ zu sein und daher nicht „die Wahl“ dazu haben, sich zwischen verschiedenen Registern und somit auch Milieus zu bewegen und Anderen, die diese Möglichkeit besitzen, da sie Elemente „des Prolls“ zur eigenen Identitätsgestaltung „einarbeiten“ und als Elemente einer Bricolage verwenden können. Bricolage kann hierbei als eine Art Bastelei verschiedener dem*der Akteur*in zur Verfügung stehender Mittel verstanden werden, durch die der*die Akteur*in in der Lage ist, Probleme zu lösen, ohne sich neue spezielle Ressourcen aneignen zu müssen.[26] Letzterem wären, meiner Auffassung nach, auch die als „Pottoriginale“ dargestellten Akteure zuzuordnen.
Weiterhin bietet die kulturelle Figur des „Pottoriginals“ auch Menschen, die sich selbst nicht als „Pottoriginale“ inszenieren, Identifikationsmöglichkeiten. So ziehen sie Bezüge zwischen ihrer eigenen Familiengeschichte, ihrer regionalen Vergangenheit und der Etikettierung der Figure des „Pottoriginals“ als „Verkörperung des ‚alten‘ Ruhrgebiets“. Mentale Konstruktion solcher „Typen“, wie die der „Pottoriginale“, können bei der Navigation durch instabile Verhältnisse helfen.[27] So könnte sich daraus schließen lassen, dass die „Pottoriginale“ den Ruhrgebietsbewohner*innen, und auch den Akteur*innen selbst, helfen, den Wandel des Ruhrgebiets besser verhandeln zu können. Dies könnte somit einen Grund dafür darstellen, dass die Figur eine besondere Bedeutung für viele Menschen (insbesondere Ruhrgebietsansässige) hat.
In Hinblick auf meine Forschungsfrage zeigt sich, dass die Polarisierung der „Pottoriginale“ aus dem Gegensatz zwischen den zuvor dargestellten Identifikationspotenzialen für die Menschen der Ruhrgebietsregion und der Kritik an der klischeehaften Darstellung des Films entsteht. Durch die Untersuchung der sozialen Wirklichkeit als komplexen Aushandlungsort von „Typen“ will dieser Beitrag jedoch dafür plädieren, sowohl wissenschaftlich, wie auch auf alltäglicher Ebene, diese simple Gegenüberstellung von Klischee und „Wirklichkeit“ hinter sich zu lassen. Die „lange Tradition“ der Figuren-Erforschung in der Kulturanthropologie, ausgehend von der Stadt- und Kultursoziologie der 20er und 30er Jahre bis hin zu Eges „Proll“ ist dabei behilflich. Vor Allem Letzterer stellt durch die Schärfung des Figurenbegriffs das entsprechende Werkzeug für eine tiefergehende Betrachtung bereit.
Bildrechte: Gerrit Starczewski
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[1] Pottoriginiale Roadmovie: Interview mit Regisseur Gerrit Starczewski. Online unter: https://pottoriginale.de/ (Stand 23.06.19).
[2] Mühlbeyer, Harald: Pottorginale Roadmovie. Online unter: https://www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/pottoriginale-roadmovie (Stand 23.06.19).
[3] Rasche, Oliver: Wenn ein Schalker meine Tochter will, hau ich den wech! Online unter: https://www.welt.de/vermischtes/article171647540/Wenn-ein-Schalker-meine-Tochter-will-hau-ich-den-wech.html (Stand 23.06.19).
[4] Ege, Moritz/Wietschorke, Jens: Figuren und Figurierungen in der empirischen Kulturanalyse. Methodologische Überlegungen am Beispiel der „Wiener Typen“ vom 18. bis zum 20. und des Berliner „Prolls“ im 21. Jahrhundert. In: LiTthes. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie. Person-Figur-Rolle-Typ II. Kulturwissenschaftliche und kultursoziologische Zusammenhänge. II/11 (2014), S. 16-35, hier S. 32. Kulturelle Figur meint eine sowohl typisierende soziale wie auch mediale Darstellung, hier auf die „Pottoriginale“ bezogen.
[5] Pottoriginale Roadmovie: Gerrit Starczewski.
[6] Vgl. Pottoriginale-Roadmovie (Film). Online unter: https://pottoriginale.de/ (Stand 23.06.19).
[7] Ege/Wietschorke: Figuren (2014), S. 23.
[8] Ebd., S. 33. Stilisierung meint hier „die wissende und auch versprachlichte Orientierung an einem sozialen Typus.
[9] Vgl. ebd., S. 27, 32f.
[10] Ebd., S. 32.
[11] In der Kulturanthropologie häufig teilnehmende Beobachtung genannt.
[12] Ege/Wietschorke: Figuren (2014), S. 26 f. und S. 32.
[13] Interview 2 vom 14.04.19.
[14] Interview 1 vom 14.04.19.
[15] Hier sind explizit nur männliche Akteure gemeint. Dies gilt auch für die weitere Verwendung des Begriffs.
[16] Interview 2 vom 14.04.19.
[17] Social-Media-Darstellung umfasst hier die Social-Media-Beiträge auf den Kanälen Instagram, Facebook und Youtube.
[18] Beobachtungsprotokoll vom 14.04.19.
[19] Beobachtungsprotokoll vom 14.04.19.
[20] Gedächtnisprotokoll vom 14.04.19.
[21] Gedächtnisprotokoll vom 14.04.19.
[22] Interview 1 vom 14.04.19.
[23] Gedächtnisprotokoll vom 14.04.19.
[24] Interview 1 vom 14.04.19.
[25] Vgl. Ege, Moritz: Ein Proll mit Klasse. Mode, Popkultur und soziale Ungleichheiten unter jungen Männern in Berlin. Frankfurt a. M. 2013.
[26] Ritter, Christian: Postmigrantische Balkanbilder. Ästhetische Praxis und digitale Kommunikation im jugendkulturellen Alltag. Zürich 2018, S. 80.
[27] Ege/Wietschorke: Figuren (2014), S. 20.