Mobile Narrative: Dank Instagram daheim?

von F.

Von Orten und Gemeinschaften

Herkunft hat eine starke „imaginäre Dimension“.[1] Rolf Lindner beschreibt dies als „Ethos der Region“: Man fühlt sich zugehörig und heimisch, Verhalten und Sprechweise bedürfen keiner Erklärung, man ist mit dem Umfeld, seinen Eigenarten und Gepflogenheiten vertraut.[2] Gleichzeitig ist Heimat nicht nur ein Gefühl, dem man ausgesetzt ist, sondern aktiv gestaltbar „als selbst mitgeschaffene kleine Welt.“[3]

Mit neuen Möglichkeiten, unsere physische Welt zu gestalten, entstehen auch neue Kanäle für unsere Vorstellungen von Zugehörigkeit und Heimat. Soziale Medien bedeuten hier Chance und Wandel zugleich. Sie erlauben uns, jederzeit und an jedem Ort miteinander zu interagieren und persönliche Geschichten, Gefühle und Gedanken miteinander zu teilen.[4] Durch sie können wir uns an ein Heimatgefühl erinnern oder aber ein völlig neues entwickeln, indem sie helfen, Verbindungen und Beziehungen über jegliche geografische Distanz aufrechtzuerhalten, aber auch neu zu knüpfen. Es entsteht eine „geteilte Erfahrung intergenerationeller Herkunftsvernetzung“:[5] So können sich etwa junge Menschen mit gleichem Migrationshintergrund online als migrantische Gemeinschaft organisieren, ohne je die elterliche Heimat besucht zu haben. Ebenso können sich andere diese Herkunft „aneignen“, indem sie an dem medial geschaffenen Umfeld teilhaben und die dort üblichen Gepflogenheiten übernehmen. So kann Zugehörigkeit auf ganz unterschiedliche Weisen entstehen. Das hat vor allem mit Fantasie zu tun – der Vorstellungskraft, dem Sich-Ausmalen von Gemeinschaft.[6] Benedict Anderson nennt auf solche Weise entstehende Gemeinschaften ‚imagined communities‘. Heute können Fantasie, Gemeinschaft und soziale Medien Schnittmengen bilden, die Einfluss auf den Alltag nehmen.[7]

Im Rahmen der Semester- und Seminarthemen „Heimat“ und „Ruhrgebiet“ habe ich mich mit dem ortsspezifischen Erzählen über soziale Medien beschäftigt. Aber wie wird vom Ruhrgebiet erzählt? Rolf Lindner beobachtet in Darstellungen des Ruhrgebiets „die Verschränkung von Arbeit, Armut und Schmutz, Schmutz und Laster“ als distinktiv-proletarisches Merkmal der Region.[8] Im Gegenzug provoziert das von außen projizierte „Negativimage“ einer umweltschädlichen „Krisenregion“ und seiner primitiven Bewohner_Innen nicht selten die Abwehrreaktion, diese Zuschreibungen zu subvertieren, und „ primitiv“ etwa als „unkompliziert“, „arbeitsam“ und „genügsam“ umzudeuten.[9] Während das Negativimage die Existenzberechtigung der Menschen in Frage stellt, rechtfertigt die Subversion diese durch eine tugendhafte Darstellung. Aus kontinuierlicher, gemeinsamer Abgrenzung – Benedict Anderson nennt dies „transforming fatality into continuity“[10] – und der Bewältigung des geteilten Schicksals entsteht Gemeinschaft.[11]

Doch das Ruhrgebiet als geografischer und sozialer Ort mit seinen Erzähler_Innen und Erzählweisen bleibt nicht immer gleich. Auch dort können soziale Medien „die Rolle der Imagination im sozialen Leben“[12] und somit das alte Narrativ der imagined community maßgeblich verändern, da sie neue „Möglichkeiten“ für „enträumlichte“[13] Identifikation schaffen. Narrative sind schließlich nicht mehr eindeutig als „zusammenhängende, lineare Geschichte über einen Ort, ein Ereignis oder eine Gemeinschaft“[14] zu fassen. Jason Farman plädiert vor dem Hintergrund medialen Erzählens für ein breites Verständnis von Geschichten als Fragmente, die nicht zwangsläufig einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben müssen.[15] Vielmehr ist relevant, wie und zu welchem Thema erzählt wird. Dies ist beispielsweise bei der Plattform Instagram der Fall. Ihre einzelnen Bilder müssen in keiner bestimmten Reihenfolge erlebt werden. Durch ortsunabhängiges, mobiles Zugreifen und Teilen von Geschichten, durch einen kurzen Blick auf das Handydisplay, kann das ortsspezifische Erzählen vom Ruhrgebiet vielseitig und schnell erlebbar gemacht werden.[16]

Wie wird also über die Plattform Instagram vom Ruhrgebiet erzählt? Wie reagieren Teile der imagined community auf die dort entstehenden Erzählungen? Um diesen Fragen nachzugehen, habe ich Interviews mit zwei Personen geführt, die das Ruhrgebiet verlassen haben und in Bonn sesshaft geworden sind. Lukas (31, Name geändert) nutzt Instagram täglich. Robert (57, Name geändert) kennt Instagram durch seine Kinder, nutzt es selbst allerdings nicht. Beide kommen aus dem Ruhrgebiet und erzählen von zu Hause und davon, wie Instagram-Fotos aus der Heimat auf sie wirken.

Mit der Industrievergangenheit nichts zu tun?

Mein erster Interviewpartner, Lukas, hat mit seinen Eltern das Ruhrgebiet verlassen, als er kurz vor dem Realschulabschluss stand. Seine Eltern seien „keine richtigen Arbeiter“ gewesen, „wie man das klischeehaft sagen würde“, sondern „eher obere Mittelschicht“. Als Teil der Nachbarschaft in Duisburg hätten sie sich aber immer wohl und akzeptiert gefühlt, dafür wären seine Eltern ja auch „auf dem Boden geblieben“. „In der Heimat“ erzählte er niemandem vom anstehenden Wechsel aufs Gymnasium in „der Beamtenstadt“. Lukas impliziert wiederholt ein vorherrschendes Bild von Ablehnung gegenüber Elitärem. Die Unauffälligkeit seiner gut situierten Eltern im Ruhrgebiet ist daher für ihn positiv konnotiert.[17] Lukas scheint die Verhaltensweisen und Regeln der Nachbarschaft im Ruhrgebiet zu reproduzieren. Obwohl er die Region verlassen hat und vorgibt, sich nicht übermäßig mit ihr zu identifizieren, setzt sich seine Zugehörigkeit fort:

„Ich bin schon so der Typ, der sich anpasst. Und ich finde auch nicht, dass man es mir anhört [,dass ich aus dem Ruhrgebiet komme]. Ich sag halt zum Beispiel mal ‚malochen‘, oder sowas. In Bonn hat’s gereicht, für die war ich schon so der ‚Arbeiter‘. Eigentlich ein Witz.“

Als wir auf Instagram zu sprechen kommen, erzählt er mir von Kampfsport und Achtsamkeitstraining, Yoga und Reisefotos. Darüber, sich Heimatfotos dort anzuschauen, habe er noch nie nachgedacht. Kurzerhand tippt er das Wort „Ruhrpott“ in die Suchzeile ein, welche ihm gleich die Hashtags „#ruhrpottliebe“ und „#ruhrpottromantik“ vorschlägt. Unter #ruhrpottliebe folgt ein Bild des Förderturms der Zeche Zollverein, stilisiert nostalgisch in schwarz-weiß. Dann moosüberwucherte Schienentrassen. Als Lukas nach seiner Heimatstadt sucht, wischt sein rechter Daumen flink über das Display. Er grinst triumphierend, als er ein Foto des ehemaligen Hüttenwerks im heutigen Landschaftspark Duisburg Nord findet, fotografiert gegen eine tiefstehende Abendsonne. Diese Bilder arbeiten zwar gegen die triste Darstellung des Ruhrgebiets als „Krisenregion“, seiner Vorstellung von der Heimat entspricht das aber nur bedingt:

„Das ist halt Trend. Fotos machen kann jeder, und natürlich will man das, was man fotografiert, so gut festhalten, dass die Leute es liken. Das ist Instagram. Mit der Industrievergangenheit oder irgendwelchen Arbeitern hat das meiner Meinung nach nichts zu tun. Mir gefällt das total gut. Aber ich glaube nicht, dass das wirklich das Bild ist, was wir von daheim haben. Ich mag die Aufnahmen, aber sie sind eben für mich besonders, weil ich weiß, was dahintersteckt, welche Leute. Für viele ist das einfach nur gut fotografiert oder die haben noch nie ne Zeche gesehen. Aber ich sehe das anders. Und ich glaube, ein richtiger ‚Arbeiter‘ würde das auch nochmal anders sehen.“

Lukas grenzt sich davon ab, ein „richtiger Arbeiter“ zu sein und betont, dass sie unterschiedliche Wahrnehmungen hinsichtlich des Ruhrgebiets haben müssten. Hier scheint er stufenartig zu unterscheiden, wer befähigt ist, „wahrhaftige“ Aussagen über die „Industrievergangenheit“ zu treffen. Als durch die soziale Schicht seine Eltern bedingter partieller „Außenseiter“[18] zollt er den traditionellen Rollen Respekt, gleichzeitig nutzt er aber dieselben sprachlichen Codes.

„Schöne Fotos“ und „Scheißarbeit“

Als richtiger Arbeiter will Robert hingegen schon gelten. Zwar nicht in einer Zeche, aber auf dem Bau hat er jahrzehntelang „malocht“. „Das [Ruhrgebiet] ist Zuhause. Da kommt nix dran. Aber wir sind für die Familie hier hin, für meine Frau, da machste nichts. Aber ist ja auch nicht schlecht hier.“ Als es um Instagram geht, zieht Robert kritisch die Augenbrauen hoch. Er spricht von „Magermodels und Bohnenstangen“ und davon, dass es „doch schon krankhaft [ist], dass die Leute sich immer selbst fotografieren. Das ist nicht normal.“ Ich zeige ihm dieselben Bilder, die ich mit Lukas zuvor auf Instagram entdeckt habe. Den Familienvater überraschen die Motive der Plattform, die er voller „Selbstdarsteller“ gehalten hat. Besonders die nostalgischen Zechenbilder unter #ruhrpottromantik begeistern ihn. Dass Smartphones und Instagram so genutzt werden könnten, hätte er nicht gedacht.

„[D]ass es so viele Leute gibt, die rumlaufen und schöne Fotos im Pott machen. Also richtige Landschaftsfotos – das sind sie ja, also nicht unbedingt Landschaften, ne. Aber schon toll. Ich werde sie mal fragen, meine Töchter, ob sie sowas schon gesehen haben. Die werden ganz schön blöd gucken, dass ich ihnen so etwas zeigen kann.“

Für Robert erzählen diese Fotos die Geschichte jüngerer Generationen über ein Medium, das maßgeblich auch von dieser Generation genutzt wird. Darin sieht Robert eine Chance:

„Sonst machen die [Jugendlichen] ja nichts, die arbeiten nicht, wie wir früher – Gott sei Dank – aber trotzdem. Das ist schon wichtig. Dass nicht immer alle nur Bürojobs hatten. Heute geht’s ja nur noch um Klamotten. Ne, find ich gut, wenn die von sich aus sowas angucken und sich interessieren. Schon toll.“

Hier zeigt er sich gespalten, da er zunächst den Selbstzweck der künstlerischen Praxis sowie „Bürojobs“ als ästhetisch-kapitalistische Dienstleistungsarbeit[19] ablehnt. Mit der Ästhetisierung der Industrievergangenheit durch die Landschaftsfotos gelingt es Robert jedoch, einen positiven Bezug herzustellen. Fast zehn Minuten lang sucht, kommentiert und erzählt er:

„Wie kreativ und schön das einfach ist. Das ist früher [unter Tage] ganz sicher nicht so gewesen. Aber hier bekommt man ja richtig Lust, mal wieder nach Essen zu fahren. Hab fast ein schlechtes Gewissen.“

Er lacht und beginnt, von einem Bekannten zu erzählen, der Zechenarbeiter war: „Das war schon ne Scheißarbeit. Dazu musste man auch Kraft haben. Aber rumgejammert hat der natürlich auch nie. Man arbeitet halt, hat alles einen Sinn.“ Er wischt mit den Fingern vorsichtig weiter über die Bilder – nicht ganz so zügig und routiniert wie Lukas. Roberts Erzählung bleibt zwiespältig. Die „Scheißarbeit“ in der Zeche erfordert beispielsweise ein denkwürdiges Maß an „Kraft“. Er bedient weiterhin die gleichen respektierten, traditionalistischen Codes wie Lukas‘ „richtiger Arbeiter“.

Instagram birgt mit seinen vereinzelten Geschichten hohes Potenzial für die imagined community des Ruhrgebiets, das Negativimage zu subvertieren. Dass Lukas die Darstellung der „Industrievergangenheit“ unzureichend findet und Robert „fast ein schlechtes Gewissen“ bekommt, zeugt zumindest davon, dass es den Fotos gelingt, die Erinnerungen an und eine Identifikation mit der Region anzustoßen.


[1] Ritter, Christian: Postmigrantische Balkanbilder. Ästhetische Praxis und digitale Kommunikation im jugendkulturellen Alltag. Zürich 2018, S. 56.
[2] Lindner, Rolf: Das Ethos der Region. In: Ders. (Hg.): Die Wiederkehr des Regionalen. Über neue Formen kultureller Identität. Frankfurt a. M. 1994, S. 201-231, hier S. 205.
[3] Ina-Maria Greverus zitiert in Bausinger, Hermann: Heimat in einer offenen Gesellschaft. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte. In: Will Cremer/Ansgar Klein (Hg.): Heimat. Analysen, Themen, Perspektive. Bielefeld 1990, S. 76-90, hier S. 88. Online verfügbar unter: https://bibliographie.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/47994/pdf/Bausinger_Hermann_Heimat_in_einer_offenen_Gesellschaft.pdf?sequence=1&isAllowed=y (Stand: 20.07.2019).
[4] Farman, Jason: Site-Specificity, Pervasive Computing, and the Reading Interface. In: Ders. (Hg.): The Mobile Story. Narrative Practices with Locative Technologies. New York/London 2014, S. 3-16, hier S. 8.
[5] Andreas Hepp et al. zitiert in Ritter: Postmigrantische Balkanbilder (2018), S. 58.
[6] Appadurai, Arjun: Globale ethnische Räume. Bemerkungen und Fragen zur Entwicklung einer transnationalen Anthropologie. In: Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Edition Zweite Moderne. Frankfurt a. M. 1998, S. 11-40, hier S. 22.
[7] Ebd., S. 24.
[8] Lindner: Ethos der Region (1994), S. 209.
[9] Ebd. und S. 223.
[10] Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London/New York 2006, S. 11 und S. 43.
[11] Ebd., S. 263. Anderson bezieht sich hier auf Jacques Derridas relationales Verständnis von Bedeutung; durch die Abgrenzung von anderen entsteht eine gemeinsam geteilte Bedeutung.
[12] Appadurai: Globale ethnische Räume (1998), S. 24.
[13] Ebd.
[14] Farman: Site-Specificity (2014), S. 9.
[15] Vgl. ebd.
[16] Ritchie, Jeff: The Affordances and Constraints of Mobile Locative Narratives. In: Jason Farman (Hg.): The Mobile Story. Narrative Practices with Locative Technologies. New York/London 2014, S. 53-67, hier S. 57.
[17] Vgl. Lindner: Ethos der Region (1994), S. 216.
[18] Kerner, Ina: Kollektive Identität. Überlegungen zum Gebrauch eines umstrittenen Konzepts. In: Hubertus Buchstein/Rainer Schmalz-Bruns (Hg.): Politik der Integration. Symbole, Repräsentation, Institution. Festschrift für Gerhard Göhler zum 65. Geburtstag (Politische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft 7). Baden-Baden 2006, S. 157-73, hier S. 166. Kerner bezieht sich hier auf das Konzept der traditionalistischen Codes des Soziologen Bernhard Giesen. Diese „bestimmen Routinen, Traditionen und Erinnerungen einer Gemeinschaft als Kern kollektiver Identität. Identität wird dabei als Kontinuität gedacht, wobei die ritualisierte Erinnerung zum wichtigsten Modus der Kontinuitätskonstruktion wird.“
[19] Sutter, Ove/Flor, Valeska/Schönberger, Klaus: Ästhetisierung der Arbeit. Eine Einleitung und ein (weiteres) Plädoyer für die Überwindung der Dichotomisierung von „Sozialkritik“ und „Künstlerkritik“. In: Ove Sutter/Valeska Flor (Hg.): Ästhetisierung der Arbeit. Kulturananlysen des kognitiven Kapitalismus. Münster 2017, S. 7–29, hier S. 12. Online veröffentlicht unter: https://www.kulturanthropologie.uni-bonn.de/abteilung/mitarbeiterinnen/jprof.-dr.-ove-sutter/aesthetisierung-der-arbeit (Stand 20.07.2019).