Die Lichtkunst des Ruhrgebiets – Mediale Repräsentationen eines regionalen Phänomens

von Marie Brüggemann

„Wenn sich die Dunkelheit über das Ruhrgebiet senkt, leuchtet eine ganz besondere Kunst in der Region.“[1] Mit diesen Worten wird auf metropoleruhr.de unter der Rubrik ‚Kultur‘ ein kurzer Einblick zur Lichtkunst im Ruhrgebiet gewährt, welche sich in den vergangenen Jahren zu einem bemerkenswerten künstlerischen Zweig der Region entwickelt hat. Ob bei der Ankunft am Essener Hauptbahnhof, dem Besuch des Weltkulturerbes Zeche Zollverein, der Besichtigung in Szene gesetzter Halden, dem Durchkreuzen des Ruhrgebiets mit dem Auto bei Nacht oder dem Besuch des Zentrums für internationale Lichtkunst in Unna – nahezu überall sind in Farbe getunkte Objekte der vergangenen Industriekultur zu entdecken. Die Installationen sind ein Werk verschiedenster Lichtkünstler*innen aus aller Welt.[2]
Lichtkunst ist inzwischen als eine autonome Kunstgattung einzuordnen und in Deutschland insbesondere im Ruhrgebiet vorzufinden. Durch die Nutzung von künstlichem sowie natürlichem Licht werden laut der Lichtkünstler Jonathan Speirs und Mark Major, welche die Lichtinszenierung der Kokerei Zollverein realisiert haben, „die charakteristischen architektonischen Formen [der Industriebauten] zum Ausdruck gebracht.“[3]

Abbildung 1: Die blaue Allee der Zeche Zollverein © drp Kulturtours – Harald Kother.

 

Die Arbeit eines Lichtkünstlers: Fusion von Dunkel und Hell

Um zu erfahren, warum die Lichtkunst gerade im Ruhrgebiet ein solches Aufblühen erlebt und welchen Nutzen sie für die Region hat, treffe ich mich an einem regnerischen Abend im Februar mit dem Lichtkünstler Thorsten P. im Duisburger Stadtteil Hamborn. Als ich auf das alte Fördergerüst zusteuere, das Thorsten für unser Treffen ausfindig gemacht hat, bricht bereits die Dämmerung ein. Ich sehe den Lichtkünstler mit seinem Equipment von Weitem neben dem riesigen Förderturm der Zeche Friedrich Thyssen Schacht 6 stehen. Noch erscheint dieser in Dunkelheit, seine Streben und seine Form sind lediglich zu erahnen. Nachdem wir uns einander vorgestellt haben, kommen wir in ein kurzes Gespräch. Thorsten erzählt mir vieles über seine Projekte: Der 40-Jährige ist selbstständig und kann seine Zeit selbst einteilen. Sobald es dunkel wird, widmet er sich seinem Hobby: der Lichtkunst. Angefangen hat diese seltene Leidenschaft mit seiner Hingabe zur Fotografie und seiner Freude am nächtlichen Umherstreifen im Ruhrgebiet. Seit etwa einem Jahr tourt Thorsten nun mit seiner Digitalkamera umher und entdeckt laufend vergessene Objekte der Industriekultur, die von ihm und seinem Team mit Licht in Szene gesetzt werden. Zunächst wurden die Industriegebäude mit einer intensiv leuchtenden Taschenlampe angestrahlt, sodass in der Dunkelheit ein Bild von ihnen aufgenommen werden konnte. Heute nutzt er für die Beleuchtung der Bauwerke Bühnenscheinwerfer, die mit einem Stromgenerator betrieben werden. Thorsten ist mittlerweile im Besitz acht solcher Scheinwerfer – je mehr Lichtkunstprojekte realisiert werden, desto mehr Equipment legt er sich zu. Die Scheinwerfer sind auf bestimmte Farben vorprogrammiert. Um nachvollziehen zu können, welche das sind, tragen sie Nummern.[4]

Das heutige Vorhaben des Lichtkünstlers ist es, den Förderturm in Duisburg-Hamborn mit den Bühnenscheinwerfern zu beleuchten und im Anschluss ein Foto von dem Lichtspektakel zu schaffen. Neben der Ausstellung auf der eigenen Website werden die Aufnahmen auf Social Media-Plattformen wie Facebook und Instagram hochgeladen. Thorstens Projekt ist dort unter dem Titel „Lichtkunst.Ruhr“ zu finden. Besonders die Plattform Instagram ist für seine Arbeit mittlerweile von großer Bedeutung. Seine Bilder erscheinen dort unter Hashtags wie #lichtkunstruhr, #kultruhr oder #derpottleuchtet. Sie sind das Endprodukt der nächtlichen Arbeit, für die Thorsten und sein Team stets mit Likes und Kommentaren von ihren Follower*innen honoriert werden. Instagram sei, laut Thorsten, zwar so schnelllebig wie unsere heutige Zeit, trotzdem zeige die Plattform für Zwecke – wie eben die Ausstellung der geschaffenen Bildaufnahmen – ein hohes Maß an Nützlichkeit.[5]

Die Scheinwerfer werden von Thorsten in verschiedenen Distanzen zueinander platziert: In direkter Nähe des Fördergerüst stellt er zwei der Scheinwerfer auf, sie sollen die untere Hälfte beleuchten. Etwas weiter entfernt positioniert er links und rechts vom Turm Lichter, die den oberen Teil in einer anderen Farbe beleuchten sollen. Zwei weitere Scheinwerfer haben die Aufgabe, die Bäume im Vordergrund des Bildes anzustrahlen.
Nach Einschalten der Scheinwerfer erscheint das Fördergerüst erst nur in weißem Licht, doch nach einer Umstellung der Lichter per Fernbedienung kommen prächtige Farben zum Vorschein: Rot, Blau, Grün, Lila und selbst Orangetöne projiziert der Lichtkünstler mit den Bühnenscheinwerfern auf das ehemalige Fördergerüst. Immer wieder justiert er die Scheinwerfer um, solange bis die Lichter das Gerüst sowie die umliegenden Bäume farblich harmonisch anleuchten.[6]

Im Interview frage ich Thorsten, was es mit der Lichtkunst im Ruhrgebiet auf sich habe. Dass ökonomische Faktoren dahinterstecken, hatte ich mir bereits gedacht, doch dann ergänzt er seine Aussagen: Da das Ruhrgebiet früher in Dunkelheit gelegen habe, bringe die Lichtkunst nun Helligkeit in die Region.[7]

Visuelle Tourismusproduktion durch mediale Repräsentationen auf Instagram

Wenn Thorsten über ‚früher‘ spricht, meint er die Arbeit auf den Zechen zur Zeit der Kohle- und Stahlindustrie. Seitdem haftet den Städten und ihren Einwohner*innen die vermeintliche Bedeutung von Dreck und Primitivität an.[8] „Also, wenn du jetzt auf die 70er Jahre schaust, Ruhrgebiet ist dreckig, es ist laut, es stinkt, die Leute sind sehr direkt“[9], beschreibt auch der Lichtkünstler das Gebiet, wie es einst erschien. Jene Schilderungen zeigen die Eigenart der „partikularen Region“ Ruhrgebiet, wie sie auch der Soziologe und Volkskundler Rolf Lindner bereits 1994 beschrieb.

Es handelt sich um ein Bild, über welches das Ruhrgebiet als Region nach außen identifiziert und abgegrenzt wurde.[10] Durch den starken Konjunkturrückgang während der Kohlekrise sowie das negative Bild der ‚dreckigen‘ Region, bedurfte es einer kulturellen Umwidmung, mit der „alte Bilder neu besetz[t]“ werden konnten.[11] Um dies zu bewerkstelligen, wurde eine Bewerbung des Ruhrgebiets anhand unterschiedlichster Kampagnen, wie „Der Pott kocht“ oder „Ein starkes Stück Deutschland“ eingeleitet.[12]
Heute tragen auch zahlreiche touristisch geprägte Lichtkunstveranstaltungen wie beispielsweise das Light-Festival in Essen zu dieser Bewerbung bei. In meiner Interpretation werden die Relikte der Vergangenheit hierbei in eine Marketing- und Tourismusstrategie transformiert. Denn oft wird vergessen: Nur durch die Existenz der stillgelegten Industriebauten ist die Produktion von Tourismus für die Region letztlich überhaupt möglich.

Somit kann durch die Lichtkunst und insbesondere durch ihre Distribution auf Instagram eine visuelle Tourismusproduktion erst entstehen. Veröffentlichte Bilder von Lichtkunstinstallationen unter Hashtags wie #ruhrpottromantik oder #industriekultur – von Lichtkünstler*innen sowie von Tourist*innen – schaffen eine Faszination sowie eine funktionale Folgeerscheinung für die Region. Diese Praktik wird von dem britischen Soziologen John Urry wie folgt beschrieben: Der „tourist gaze“[13] (touristischer Blick) ermöglicht es, Besonderes von Alltäglichem zu trennen. Somit können Fotografien geschaffen werden, die durch ihr wiederholtes Auftreten zu touristischem Erfolg und im Fall des Ruhrgebiets zum wirtschaftlichen Aufschwung der Region beitragen. Urry schreibt dazu: „[Pictures] enable the gaze to be endlessly reproduced and recaptured”.[14] Die Plattform Instagram ist diesbezüglich ein geeigneter Ort für die Umsetzung dieser visuellen Tourismusproduktion. Dies ist nicht nur anhand der Instagram-Profile von Lichtkünstlern wie Thorsten zu sehen, sondern ebenfalls an umfassenderen Hashtags wie #ruhrgebiet oder #pottliebe: Bei der Sichtung der Ergebnisse, die unter diesen Hashtags zu finden sind, tauchen kontinuierlich einzelne Bilder von Lichtkunstinstallationen im Ruhrgebiet auf.

Abbildung 2: Instagram-Profil „Lichtkunst-Ruhr“ © Thorsten Pfister.

Alter Charme in neuem Glanz – Romantisierung der Vergangenheit

Zusätzlich zu dieser visuellen Tourismusproduktion ist anhand der Lichtkunst eine symbolische Umformung der industriellen Vergangenheit des Ruhrgebiets wahrnehmbar. Um diese angemessen erklären zu können, nutze ich das Konzept des Decodierens und Encodierens des britischen Soziologen Stuart Hall.[15] Das Modell dient dazu, die ideologische Macht von Medien verstehen zu können.

Die Vergangenheit bzw. das ‚Alte‘ des Ruhrgebiets wird durch die Lichtkunst symbolisch umgeformt. Das ‚Alte‘ meint hierbei die negativ behaftete Impression des Ruhrgebiets durch die Arbeit auf den Zechen während der Industriezeit. Dieser Eindruck wird durch die temporäre Umgestaltung vergangener Industriebauten mithilfe von Licht in etwas ‚Neues‘ umgestaltet: Neben der Nutzung der Relikte für touristische Zwecke (z.B. Lichtinszenierung der Zeche Zollverein), findet eine Romantisierung und Konservierung der Geschichte statt. Es handelt sich also um eine Symbolik, die sich der industriellen Vergangenheit bedient und mit welcher die Lichtkünstler*innen ihren Bildern eine Bedeutung zuschreiben – sie encodieren.[16] Diese Symbolik findet anschließend über eine mediale Repräsentation auf Instagram Verbreitung, sodass sie von User*innen der Plattform gelesen, also dekodiert werden kann. Lichtkünstler*innen und Rezipient*innen können somit die Bedeutung der Bilder miteinander aushandeln. Die Rezipient*innen sind in diesem Fall die User*innen der Plattform Instagram. Nach meiner Interpretation wird so die Romantisierung und Konservierung der industriellen Geschichte erst möglich gemacht. Über die Bilder der Lichtkunstinstallationen findet eine Weitergabe von Bedeutung statt. Auch die Kunsthistorikerin Söke Dinkla erkennt diese Möglichkeit von medialer Weitergabe: Sie sieht in den Lichtprojekten eine Aktivierung der Erinnerungsleistungen und somit „die Möglichkeit für eine neue Richtung der Identitätsfindung“.[17] Das alte Bild der Region, was in den Köpfen der Leute verankert ist, erhält auf diese Weise eine Aufwertung und hinterlässt in letzter Konsequenz eine positive Erinnerung.

Auch bei Thorsten wird die Romantisierung der industriellen Vergangenheit erkennbar:

„… also Ruhrgebiet selber ist bei mir immer das Alte […] das Neue … ist schön und ist auch gut als Veränderung, aber ich geh dann lieber jetzt hier irgendwo zum Stahlwerk oder zu ’ner Kokerei, wo es halt noch stinkt, wo der Himmel jetzt halt noch am Leuchten ist, das ist für mich faszinierender.“[18]

Ferner wird die Romantisierung bei der Arbeit des Lichtkünstlers durch das nächtliche Aufsuchen vergessener Bauwerke der Industriezeit zum Vorschein gebracht. Auffällig ist außerdem, dass Thorsten und sein Team lediglich in Vergessenheit geratene Objekte beleuchten. Bereits kommerzialisierte Industriebauten wie Zeche Zollverein sind für sie weniger interessant. Auch diese Praktik bringt die oben beschriebene Romantisierung sowie eine Wertschätzung der Vergangenheit hervor.

Von allen Seiten in Licht gehüllt

Nach der korrekten Justierung aller Scheinwerfer und der Einstellung der Farben ist es endlich soweit: Die Kamera wird gestartet. Das ehemalige Fördergerüst erscheint mittlerweile in Blau- und Lilatönen. Nach der Aufnahme einiger Fotos schleichen sich im Hintergrund heimlich rötliche Farben ein. Dadurch, dass Thorsten die Region in- und auswendig kennt, kann er mir erklären, wie diese Farben entstehen: Im Norden Duisburgs sei noch ein Werk in Betrieb. Dort lasse die Schlacke der Hochöfen circa alle fünfzehn Minuten den Himmel in rötlichen Tönen erleuchten. Die Freude ist groß, als genau in diesem Moment der Auslöser gedrückt wird. Das rötliche Licht am Horizont erlischt nach wenigen Sekunden, doch die Aufnahme ist eingefangen. In der Luft ist ein feiner Hauch der Kokereien zu vernehmen.[19]

Abbildung 3: Fördergerüst der Zeche Friedrich Thyssen Schacht 6 © Thorsten Pfister.


[1] Metropohle-ruhr.de: Von wegen kohlrabenschwarz. Lichtkunst leuchtet in der Metropole Ruhr. Online unter: metropoleruhr.de/12652/. (Stand: 08.07.2019).
[2] Vgl.: Dinkla, Söke/Zentrum für internationale Lichtkunst Unna: Am Rande des Lichts inmitten des Lichts. Lichtkunst und Lichtprojekte im öffentlichen Raum Nordrhein-Westfalens. Köln 2004.
[3] Ebd., S. 58-59.
[4] Beobachtungsprotokoll, 21.02.2019, Duisburg-Hamborn.
[5] Interview, 21.02.2019, Duisburg-Hamborn.
[6] Beobachtungsprotokoll.
[7] Interview.
[8] Lindner, Rolf: Das Ethos der Region. In: Ders. (Hg.): Die Wiederkehr des Regionalen. Über neue Formen kultureller Identität. Frankfurt a. M. 1994, S. 201-231, hier S. 209.
[9] Interview.
[10] Schwarz, Angela: Industriekultur, Image, Identität. Die Zeche Zollverein und der Wandel in den Köpfen. Essen 2008, S. 19.
[11] Fleiß, Daniela: Auf dem Weg zum „starken Stück Deutschland“. Image- und Identitätsbildung im Ruhrgebiet in Zeiten von Kohle- und Stahlkrise. Duisburg 2010, S. 233.
[12] Ebd., S.9.
[13] Urry, John: Leisure and Travel in Contemporary Societies. London 1990, S. 3.
[14] Ebd., S. 3.
[15] Vgl.: Hall, Stuart: Kodieren/Dekodieren. In: Ders. (Hg.): Ideologie, Identität, Repräsentation. Hamburg 2004, S. 66-80.
[16] Ebd, S. 69.
[17] Dinkla: Lichtkunst (2004), S. 47.
[18] Interview.
[19] Beobachtungsprotokoll.