von K. Gerlach
Was empfinden wir im Prozess des Selfie-Postens?
Die sozialen Medien sind ein wichtiger Bestandteil des alltäglichen Lebens: Aufgrund ihrer permanente Verfügbarkeit greifen wir immer wieder auf sie zu, sei es während der Bahnfahrt, im Café, im Wartezimmer beim Arzt oder im Urlaub. Sie sind ein ständiger Begleiter unseres Lebens. In diesem Zusammenhang hat sich in den letzten Jahren ein alltäglich gewordenes Phänomen entwickelt: das Selfie. Schätzungsweise werden täglich 3,5 Milliarden Likes vergeben, 40 Milliarden Fotos geteilt und alle zwei Minuten werden mehr Bilder aufgenommen als im kompletten 19. Jahrhundert.[1] Mir stellt sich die Frage: Was empfinden wir im Prozess des Selfie-Postens?
Was bewirkt das Hochladen von Selfies bei mir?
Es war ein verregneter, kalter und trister Tag im April. Gemeinsam mit zwei Kommilitoninnen fuhr ich mit der Regionalbahn Richtung Ruhrgebiet – dem Ort meiner Forschung. Das Ziel war die Margarethenhöhe in Essen. Vor Ort schaute ich mir die Umgebung im Rahmen eines Wahrnehmungspaziergangs an. Mit meinem Handy in der Hand und meiner Forschungsfrage im Kopf ging ich durch die Straßen. Mir schwirrten Gedanken durch den Kopf wie z.B. „Was für ein Motiv nehme ich für ein gutes Selfie? Es darf mich bloß keiner sehen!“ Mein Blick wandert umher, ständig auf der Suche nach einem guten Motiv: „Ah, hier schaut es gut aus. Vielleicht vor dem schönen Haus? Oder vielleicht doch auf der Straße, damit man die Gegend komplett sieht? Ach nein, das gefällt mir nicht, man sieht eh nur mich!“ Es benötigt mehrere Anläufe, um ein Selfie zu machen. Oft gefällt mir etwas nicht: sei es das eigene Aussehen oder der Bildausschnitt.
Gefühle wie Unzufriedenheit, Skepsis und Enttäuschung kommen in mir hoch. Warum habe ich jetzt solche Gedanken? Kann ein einziges Bild so viele unterschiedliche Gefühle in mir auslösen? Selbstzweifel steigen in mir auf und gleichzeitig beschert mir ein gelungenes Selfie ein Glücksgefühl.

Mit Monique Scheer lassen sich Emotionspraktiken beschreiben, die sich auch im Prozess des Selfie-Machens wiederfinden lassen. Sie unterscheidet dafür zwischen Gefühlen und Emotionen. Ihr zufolge werden Gefühle innerlich und subjektiv wahrgenommen. Emotionen haben im Gegensatz hierzu einen direkten Einfluss auf unser körperliches Befinden. Sie werden beispielsweise durch Tränen oder Erröten sichtbar.[2] Sie sieht Emotionen als keine rein individuellen Erfahrungen und Zustände, sondern vielmehr als Kommunikations- und Tauschmedien sozialer Beziehungen.[3] Sie befinden sich im zwischenmenschlichen Austausch und sind als Praktik lesbar:
„Emotionen sind ein Tun, eine Aktivierung des immer schon von Diskurs und Sozialität durchgedrungenen Körpers. Diese Aktivierung kann ein automatisches Abspulen von habitualisierten Erregungsmustern oder eine (mehr oder weniger) bewusste mimische Veränderung, Körperbewegung oder sprachliche Äußerung sein“.[4]
Ich schaue auf mich.
Ich laufe durch die Straßen der Margarethenhöhe. Dabei wird mir bewusst: Im Gegensatz zu herkömmlichen Bildern wird bei einem Selfie der Fokus stärker auf die eigene Person gelegt als auf den Hintergrund. Deswegen steht der Ort oftmals in den Hashtags. So auch bei mir. Mein erster Blick gilt mir selbst, erst danach lenke ich die Aufmerksamkeit auf die restlichen Aspekte: Hintergrund, Lichtverhältnisse, Blickwinkel und Bildausschnitt. Der Psychologe Jang Ho Moon untersuchte die Rolle des Narzissmus bei der Selbstdarstellung auf Instagram. Nach ihm sind die zwei Hauptmotive für die Nutzung von Instagram die Selbstdarstellung und die soziale Interaktion, was darauf hindeutet, dass Instagram-Nutzer*innen Bilder teilen, um ihr Ich zu präsentieren und soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten.[5] Gemeinsam mit seiner Forschungsgruppe arbeitete er heraus, dass Personen mit einem stärkeren narzisstischen Charakter mehr Selfies auf Instagram teilen. Sie achten vermehrt auf das äußerliche Aussehen.[6] Als ich nach dem Narzissmus frage, erzählt mir Julia[7], die ich im Rahmen meiner Forschung zu ihren Selfie-Praktiken befragte, Folgendes:
„Narzissmus kann es schon sein. Find ich, wenn man es übertreibt. Also es gibt ja Personen, die wirklich permanent Selfies schicken oder posten und das, glaub ich, zeigt eher Narzissmus. Klar, wenn man das dann genauer betrachtet, dann kann man schnell Kleinigkeiten sehen, die vielleicht an einem stören. Aber an sich muss man die Person dafür sein, um dann den Narzissmus wirklich auszuleben.“
In diesem Zusammenhang hat sich die Theologin Tanja Gojny mit der Idee von „Selfies als Spiegel-Situationen“ beschäftigt. Sie sieht Selfies als einen Spiegel, den wir einfrieren können. Ähnlich wie ein Spiegel ermöglichen Selfies als Momentaufnahmen die Möglichkeit zu Korrekturen an der eigenen Person, etwa an der Frisur oder am Make-up. Es eröffnet sich ein Raum, der Überlegungen zu Wahrnehmung und Gedanken über das Selbst zulässt: „Wie sehe ich mich? Wie sehen mich die anderen? Bin ich so, wie ich aussehe? Wäre ich anders, wenn ich anders aussehen würde“?[8] Wolfgang Ulrich sieht das Selfie hingegen als eine Maske:
„Mit den herkömmlichen mimischen Möglichkeiten ist man nicht mehr zufrieden“, schätzt Ullrich ein. Mit Selfies könne man sich maskieren, sich ein zweites Gesicht geben, sich inszenieren – es gehe nicht mehr darum, zu „einem wahren Selbst“ vorzudringen mit dem Abbild der eigenen Person – vielmehr ginge es gerade darum, ein öffentliches Bild von sich zu erzeugen, dass vielleicht mit dem privaten Bild gar nicht viel zu tun hat“.[9]
Während der Forschung empfinde ich ein Gefühl von Scham und Unsicherheit. Durch die öffentliche Aufnahme eines Selfies lenke ich die Aufmerksamkeit auf mich. Menschen schauen zu mir rüber. Ich weiß, dass es nur kurze Blicke sind, denn ich kenne es von mir selbst, dass ich diese Neugierde auch gegenüber anderen Menschen zeige. Ich merke, dass es nicht für jeden angenehm ist, sich direkt der Öffentlichkeit zu präsentieren, so auch bei mir. Es wird ein Gefühl von Unsicherheit und Angst erzeugt. Ich fühle mich unwohl, wenn mich Leute dabei anschauen. Ich empfinde es als unangenehm.
Reaktionen und meine Gedanken
Jetzt heißt es das gelungene Bild auf Instagram zu posten: Was für ein Bild soll ich wählen? Ist es für Instagram geeignet? Welche Unterschrift und welche Hashtags setze ich unter mein Selfie? Ich stehe auf dem Bürgersteig und mache mir darüber Gedanken. Es werden die Hashtags: #frühlingsgefühle #trotzregen #farblichabgestimmt #forschung #ruhrgebiet. In ihrer Konzeption nimmt Monique Scheer Einteilungen von Emotionspraktiken vor, die sich untereinander vermischen und ergänzen. Im Prozess des Selfie-Machens werden oftmals die Gefühle in Hashtags eingefügt oder in Form eines Spruches im Kommentar aufgeführt, um die momentane Gefühlslage zu unterstützen. Sie werden explizit benannt. So auch bei mir: Durch das Hashtag #frühlingsgefühle mache ich meine Follower*innen darauf aufmerksam, dass ich gewisse Frühlingsgefühle empfinde und sie mit dem Selfie rüberbringen möchte. Des Öfteren setze ich unter meine Bilder den Ausdruck meiner Gefühle. Sei es auf der 90er-Party letztes Jahr in der Rheinaue: #tanzenbisdiefüßewehtun und #spaß oder wenn ich in Stuttgart „Wie ein kleines Kind glücklich im Schnee❤️“ stehe.
Jetzt stehe ich hier mitten in der Margarethenhöhe und poste mein Selfie. Ich halte mein Handy durchgehend in meiner Hand, während ich mit meinen Kommilitoninnen die Straße entlang schlendere. Eine kleine Anspannung kommt in mir hoch. In den ersten Momenten, nachdem ich mein Selfie gepostet habe, schaue ich öfters auf mein Handy, um zu sehen ob ich Likes oder/und Kommentare bekommen habe. Ich schaue mir die Gegend an und wage einen Blick auf mein Handy. Eine Benachrichtigung poppt auf: „arthur.artem.gerlach gefällt dein Beitrag“. Und wieder: „ruhrandgo gefällt dein Beitrag“.

Ein paar Sekunden lang geht es so weiter. Ich freue mich über jedes Like, das ich bekomme. Es gibt mir ein gutes Gefühl. Vielleicht Stolz? Oder Zufriedenheit? Ich ertappe mich dabei, meinen Kommilitoninnen von meinem Erfolg zu berichten. Sie müssen schmunzeln. Und dann schon wieder: “Kommentar von Person A“. Ich freue mich über den Kommentar einer Arbeitskollegin. Ich merke, dass mich der Kommentar glücklicher macht als ein bloßer Like, denn die Person gibt sich die Mühe einen Kommentar zu verfassen, auch wenn es nur zwei Emojis sind. In Anlehnung an Scheer wirken Emotionspraktiken kommunizierend. Sie dienen zum Austausch von Gefühlen zwischen Menschen.[10] Ich möchte meine Gefühle über das Selfie an meine Follower*innen bringen und die Arbeitskollegin verdeutlicht durch ihren Kommentar ihre Gefühle, die sie beim Anblick meines Selfies empfindet.

In einem zweiten Interview wurde diese Gewichtung deutlich. Den Kommentaren wird eine größere Bedeutung zugeschrieben:
B: „Findest du Likes besser oder Kommentare?“
I: „Kommentare.“
B: „Und warum?“
I: „Weil ich lieber kommuniziere als bewertet zu werden.“
In Laufe meiner autoethnographischen Forschung durchlebe ich unterschiedliche Gefühle, Emotionen und Gedanken im Prozess des Selfie-Produzierens.
Selfie als Fixierung von Gedanken und Erinnerungen
Für viele Nutzer*innen stehen Selfies für das Festhalten von Gedanken und Erinnerungen. Meiner Interviewpartnerin Julia helfen Selfies, gewisse Erinnerungen an einen bestimmten Ort oder an einen Tag zu visualisieren und auf Instagram zu teilen. Es werden ebenfalls Gedanken in dem Selfie verarbeitet, die man sich im Laufe des Tages gemacht hat, so mein Gesprächspartner Felix[11]. Durch das Posten des Selfies auf Instagram wird ihm die Möglichkeit gegeben, sich an die Gedanken zurück zu erinnern. Für ihn ist Instagram ein digitales Tagebuch, welches er mit seinen Mitmenschen teilt. Durch das Teilen der Erinnerungen auf Instagram wird erneut die kommunikative Funktion von Emotionspraktiken deutlich: Es entsteht eine Kommunikation zwischen dem*der Nutzer*in und den Follower*innen. Zum einen möchte Felix seine gesammelten Gedanken festhalten und zum anderen reagieren die Follower*innen auf das Selfie durch ihre Likes und Kommentare.
Erinnern wird in vielen Disziplinen als eine soziale Praxis gesehen. Maurice Halbwachs entwickelte das Konzept von Sozialität von Erinnerung. Er sieht Erinnerungen als eine soziokulturell geprägte Praxisform, die sowohl im individuellen Erinnern, als auch auf der kollektiven Ebene verankert ist.[12] Erinnern sei dementsprechend nicht als individuell isolierte Einheit zu betrachten, sondern als sozialer Prozess. Die Individuen erinnern sich zwar an persönliche Geschehnisse und Ereignisse, sind darüber hinaus allerdings auch „Gesellschaftswesen“, sodass Halbwachs zufolge sowohl individuelles Denken, als auch Erinnern nicht außerhalb des Sozialen stattfinden kann.[13] Das Erinnern und die Gedächtnisprozesse werden von sozialen Strukturen und Wahrnehmungen bestimmt. Halbwachs kommt zu der Schlussfolgerung, „dass wenn sich bestimmte Eindrücke des individuellen Wahrnehmens nicht auf das soziale Leben beziehen, sie sich dann auch nicht zu Erinnerungen transformieren“.[14]
Und dann?
Am Ende des Tages habe ich eine Selfiesammlung mit 56 Selfies auf meinem Handy. In den nächsten Tagen und Wochen nach dem Tag in der Margarethenhöhe kamen kaum bis gar keine Reaktionen auf mein Selfie. Kein Like und kein Kommentar. Es ist in Vergessenheit geraten. Aber wie wird es in einigen Jahren mit den Selfies ausschauen? Annekathrin Kohout zufolge wird es eine stärkere Auflösung der Kategorien des „Öffentlichen“ und des „Privaten“ geben. Wir werden besser gewappnet sein für eine immer präsente Öffentlichkeit.[15]
[1] Vgl. Brandwatch-Blog. Smith, Kit: 49 interessante Instagram-Statistiken. Beitrag vom 28.05.2019. Online unter: https://www.brandwatch.com/de/blog/instagram-statistiken/ (Stand 4.7.19).
[2] Vgl. Scheer, Monique: Emotionspraktiken. Wie man über das Tun an die Gefühle herankommt. Wien 2016, S. 1-22, hier S. 10.
[3] Vgl. ebd., S. 2.
[4] Ebd., S. 9.
[5] Vgl. Moon, Jang Ho et al.: The Role of Narcissim in Self-Promotion on Instagram. In: Personality and Individual Differences 101 (2016), S. 22-25, hier S. 22.
[6] Vgl. ebd., S. 24.
[7] Name geändert, persönliches Interview am 8. April 2019.
[8] Kürzinger, Kathrin S./ Gojny, Tanja/ Schwarz, Susanne: Selfie. I like it. Anthropologische und ethische Implikationen digitaler Selbstinszenierung. Stuttgart 2016, S. 15-43, hier S. 18.
[9] Deutschlandfunkkultur. Wie Selfies unseren Gesichtsausdruck bestimmen. Interview mit Wolfgang Ullrich. Beitrag vom 20.03.2019. Online unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/smartphone-portraets-wie-selfies-unseren-gesichtsausdruck.2156.de.html?dram:article_id=444136 (Stand 4.7.19).
[10] Vgl. Scheer: Emotionspraktiken (2016), S. 18.
[11] Name geändert, Telefoninterview am 9. April 2019.
[12] Vgl. Sommer, Vivien: Erinnern im Internet. Der Online-Diskurs um John Demjanjuk. Wiesbaden 2018, S. 23-84, hier S.24.
[13] Vgl. ebd.
[14] Ebd.
[15] Deutschlandfunkkultur. Wie Selfies unseren Gesichtsausdruck bestimmen. Interview mit Wolfgang Ullrich. Beitrag vom 20.03.2019. Online unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/smartphone-portraets-wie-selfies-unseren-gesichtsausdruck.2156.de.html?dram:article_id=444136 (Stand 5.7.19).
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