Die Zukunft im Blick.

von Victoria Huszka

Kulturanthropologische Zugänge zu medialen Repräsentationen von Region – ein Lehrforschungsprojekt

Das Ruhrgebiet als Industrieregion ist seit der Krise der Steinkohle- und Stahlproduktion in den 1960er und 1970er Jahren in einer anhaltenden Phase des wirtschaftlichen und soziokulturellen Umbruchs. Dieser ist mit dem Terminus Strukturwandel nur schwer zu fassen. Die Region ist nach wie vor Schauplatz umfangreicher Anpassungs- und Veränderungsprozesse, die von verschiedenen Akteur_innen gestaltet und geprägt werden.

Regionales Identitätsmarketing hat seither Hochkonjunktur, was sich in zahlreichen Förderprogrammen und politischen Maßnahmen zu regionalem Branding[1] bemerkbar macht. Dieses Bestreben regionale Identifikationsangebote zu liefern war äußerst unterschiedlich und stellte dementsprechend unterschiedliche Bezugnahmen auf Region in den Fokus: Kampagnen wie „Das Ruhrgebiet. Ein starkes Stück Deutschland“ oder „Ruhri.2010“ versuchten progressiv die Einheitlichkeit der Region, die im Wesentlichen auf der gemeinsamen Vergangenheit als Standorte der Montanindustrie beruht, hervorzuheben.[2] Es gab jedoch auch Kampagnen, die die symbolische Umdeutung „des hässlichen, rückständigen, ja bedrohlichen Ruhrgebiets“[3] anstrebten und hierbei insbesondere die „grüne“ Seite des Ruhrgebiets zu repräsentieren versuchten, damit jedoch kaum Fuß fassen konnten.[4] Seit 2017 ist erneut ein Versuch einer grünen Repräsentation des Ruhrgebiets zu beobachten, der die Region nun sogar zum zweiten Mal in Folge (nach Essens Titel als europäische Kulturhauptstadt 2010) auf die internationale Bühne brachte: Essens Titel der grünen Hauptstadt Europas 2017[5], verstanden als Auftakt weiterer „grün“ geprägter Außendarstellungen der Region:

„Die Stadt Essen, die als einzige europäische Stadt die Titel Kulturhauptstadt (2010) und Grüne Hauptstadt Europas trägt, startet 2017 in eine Grüne Dekade: Der Emscherumbau wird 2020 abgeschlossen sein, im Jahr 2022 findet die Ergebnispräsentation der KlimaExpo.NRW statt und im Dezember erhielt die Region den Zuschlag für die Internationale Gartenbauausstellung 2027.“[6]

Wie lassen sich diese erneuten Versuche in einen gegenwärtigen Kontext setzen, was unterscheidet diese von früheren? Daniel Habit (2008) liefert in seinen Betrachtungen zu Europäisierungsprozessen in Essens Kulturhauptstadtjahr ein mögliches Argument hierfür: „Die Zukunftsvisionen der 1970er und 1980er Jahre leugneten die Vergangenheit als schwerindustrielle Region und strebten nach einer von der Vergangenheit und Gegenwart losgelösten Utopie“.[7] Was bedeutet das für die Konstruktion einer regionalen Identität?

Der Blick in die Zukunft

Wie Britta Spies noch in demselben Band des Rheinischen Jahrbuchs für Volkskunde beschreibt, sind montanidustrielle Orte und Objekte im Ruhrgebiet zum Gegenstand verschiedenster regionaler Erinnerungs- und Identitätspraktiken geworden.[8] Damit wurde nicht nur der industriellen Vergangenheit ein Platz in der autobiographischen Erzählung der Region eingeräumt, sondern gleichzeitig auch Perspektiven für die Zukunft des Ruhrgebiets geschaffen, denn die „Relikte verweisen zwar auf den Verlust der realen Arbeitsstätten, aber sie dokumentieren durch den Verweis auf die Existenz dieser Betriebe auch die Erfolgsgeschichte des Ruhrgebiets und fordern auf, diese spezifische Erfolgsgeschichte auch in Zukunft weiterzuschreiben“.[9] Demnach sind Imaginationen und Utopien einer regionalen Zukunft erst dann wirkmächtig, wenn sie eine historische und identifikatorische Basis im Sinne eines Kollektivs, einer Wir-Gruppe[10], bilden.

Exkursion nach Essen | November 2018

Nach der vergleichsweise erfolgreichen Verfestigung eines regionalen industriekulturellen Erinnerungsfundus, das sich auf materielle wie immaterielle Zeugen der kollektiven schwerindustriellen Arbeit stützt, konstatierte Jens Wietschorke 2010 eine kritische Wendung in den regionalen Repräsentationsmustern: „Die neue kulturelle Ökonomie, die hier implementiert werden soll, bedient sich immer weniger der Bilder aus der Industrie- und Sozialgeschichte des Reviers, sondern – wenn auch vage daran anknüpfend – vor allem des Images einer jungen Kunst- und Kulturszene.“[11]

Neue Repräsentationsmuster?

Welche Repräsentationen sind gegenwärtig im Bezug auf das Ruhrgebiet zu beobachten und welche Imaginationen von Vergangenheit und Zukunft der Region werden hierfür nutzbar gemacht?

Im Rahmen des zweisemestrigen Lehrforschungsprojekts „Mediale Aushandlungen von Regionalität“ der Abteilung Kulturanthropologie der Universität Bonn nahmen wir diese Frage zum Anlass, um uns in die Bilderflut von Instagram zu stürzen. Denn Prozesse symbolisch-diskursiver Produktion von Region, wie sie in den vorangegangenen Absätzen beschrieben wurden, werden durch die Plattform Instagram um eine weitere Diskursarena ergänzt. Seit der Einführung von Instagram im Jahr 2010 sind die Kommunikationsformate dieser Plattform im Alltag außerordentlich vieler Menschen verankert. Davon zeugen unter anderem die Zahlen des Unternehmens: Mitte 2018 nutzten etwa eine Milliarde Menschen die Software jeden Tag.[12] Die Formen dieser Nutzung sind vielfältig: So sind Foodfotografie und Mode-Influencer_innen genauso unter regionalen Hashtags wie #ruhrgebiet oder #pottliebe zu finden, wie Ausflugsbilder oder Fotos aus dem familiären Alltag der Instagrammer_innen. Doch wie stehen diese Visualisierungspraktiken mit einem „Imaginären“[13] des Ruhrgebiets in Verbindung?

Imagination von Region im Alltag

Eine Vielfalt an Verbindungslinien haben wir im Rahmen unseres Lehrforschungsprojektes in den Fokus genommen. Erkenntnisleitend war hierbei immer der Blick auf „kleine“ und zunächst unscheinbare Praktiken im alltäglichen Umgang mit Bildern. So rückten schließlich auch Situationen der Bildproduktion oder auch an Bilder geknüpfte Interaktionsformen mit Instagram ins Blickfeld, um von diesen Beobachtungen ausgehend größere Zusammenhänge zu verstehen, die eine spezifische Lesart der Region nahelegen.

Hierfür haben wir uns nach unserer gemeinsamen Exkursion nach Essen im November 2018, die wir mithilfe eines gemeinsamen Instagram-Accounts autoethnographisch begleitet haben, im zweiten Teil des Lehrforschungsprojekts jeweils spezifischen Themenfeldern gewidmet. Auf diese Weise entstanden nicht nur erste Forschungserfahrungen in der Kulturanthropologie, sondern auch ein Potpourri verschiedenster bearbeiteter Themenfelder:

So beschäftigten wir uns mit der dinglichen und räumlichen Manifestation eines Imaginären der Region in Mode und Kleidung (Alexandra M.) sowie in den ruhrgebietstypischen Trinkhallen (Marie Wilbert); auch die eigentlich „stummen Zeugen“ des Strukturwandels brachte Natascha Geis hierdurch zum Sprechen. S. H. erforschte, welche Wissenspraktiken der Bildproduktion nötig sind, um ein „richtiges“ Instagrambild zu produzieren. Felicitas Offergeld streifte durch die Margarethenhöhe, um der Frage nachzuspüren, wie sich historische Vorstellungen einer Naturidylle baulich in der Siedlung materialisieren und heute über Instagram visuell reproduziert und in neue Kontexte gesetzt werden.
Der Ästhetisierung von Artefakten industrieller Arbeit durch Lichtkunst widmete sich Marie Brüggemann, während die symbolischen Bezugnahmen auf die Schwerindustrie von Lara Lipsch als Teile einer individuellen Identitätsbricolage und von Sascha Sistenich im Kontext neuer regionaler Arbeitsmilieus in den Blick genommen wurden.
Die Region mit dem Rad zu erkunden war Teil der Auseinandersetzungen Brians mit der symbolischen Produktion von Tourismus im Ruhrgebiet. M.D. analysierte, wie die Region von Teilen der Identitären Bewegung als Raum der Heimat imaginiert und performativ angeeignet wird.
K. Gerlach interessierte sich für die Frage, wie über nostalgische Ästhetiken Emotionen hervorgebracht und in ihrer kommunikativen Funktion wirksam werden; die Betrachtung der Entstehung von Erlebnisräumen durch softwarespezifische Handlungssituationen (Vanessa Vatterodt) ergänzt diese Perspektive. Klara K. untersuchte, wie über Memes regionale Stereotype zur symbolischen Umformung eines regionalen Vorstellungsbildes herangezogen werden.
Die visuelle Verdichtung von Narrativen in Instagrambildern nahm F. in den Blick, während T. Schmidt in ihrem Beitrag veranschaulicht, wie Akteur*innen über mediale Inszenierungen die kulturelle Figur eines „Pottoriginals“ aushandeln. Maria Munck zeigt, wie Bilder von körperlicher Arbeit und Männlichkeit in der Identifikation mit dem Fußballverein Schalke 04 als Bedeutungsrepertoire zum Ausdruck kommen. Eine Kontrastierung der ästhetisierten Darstellungen schwerindustrieller Arbeit mit Erinnerungen subjektiver Arbeitserfahrungen im Bergbau leistet S. Köchling in ihrem Beitrag.

Momente der Feldforschung | April 2019

In den redaktionellen Leitlinien setzten wir uns das Ziel, Texte zu veröffentlichen, die ohne fachliches Vorwissen les- und verstehbar sind und sich nicht an dem üblichen Duktus von Hausarbeiten orientieren. Dennoch, so formulierten wir unsere Herausforderung, sollte die Komplexität kulturanthropologischer Forschung in den Beiträgen erkennbar bleiben. In diesem Spagat bewegen sich demnach die Beiträge, die aus unserer Zusammenarbeit hervorgegangen sind. So hoffen wir, dass sowohl fachinterne Leser_innen ihr Interesse an dem Themenkomplex der Imagination von Regionalität im Feld von Instagram befriedigen können, als auch diejenigen Freude an den Beiträgen finden, denen diese Zugänge bislang fremd sind.

Wir wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre!


[1] Anschaulich zeigt dies etwa Schaffrina, Achim (2017) in einem umfassenden Überblick zur Vielzahl der in diesem Prozess in Umlauf gebrachten Logos, die von den vielfachen Versuchen zur Implementierung einer regionalen Dachmarke zeugen: Ruhrgebiet-Logos. Online unter: http://www.designtagebuch.de/dachmarke-metropole-ruhr-die-stadt-der-staedte/ruhrgebiet-logos/ (Stand: 12.7.19)
[2] Vgl. Spies, Britta: Stätten der Erinnerung im Ruhrgebiet. In: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 37 (2008), S. 151-180, hier S. 174.
[3] Blotevogel, Hans Heinrich: Die Region Ruhrgebiet zwischen Konstruktion und Dekonstruktion. In: Westfälische Forschungen 52 (2002), S. 453-488, hier S. 486.
[4] Spies: Stätten der Erinnerung, hier S. 175.
[5] Für den Titel fließen aus unterschiedlichen (hauptsächlich öffentlichen) Quellen etwa 13,5 Millionen Euro, Vgl. Projektbüro Grüne Hauptstadt – Essen (2017): Wissenswertes. Online unter: https://www.essengreen.capital/essen_2017/diegruenehauptstadt/Essen2017.de.html (Stand: 12.7.19)
[6] Grüne Hauptstadt Europas Essen 2017. Online unter: https://www.essen.de/meldungen/pressemeldung_1054404.de.html (Stand: 12.7.19)
[7] Habit, Daniel: RUHR.2010 – Perspektiven, Potentiale, Problemfelder einer Kulturregion. In: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 37 (2008), S. 75-98, hier S.89.
[8] Spies: Stätten der Erinnerung (2008), hier S. 175.
[9] Ebd., S. 162.
[10] Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999.
[11] Wietschorke, Jens: Von der Industriekultur zur Kulturindustrie? Historische Identität und regionale Repräsentation im Ruhrgebiet. In: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 55 (2010), S. 23-46, hier S. 40.
[12] Boland, Hannah: Instagram Hits 1 Billion Users as it Launches Video Service to Rival YouTube. In: The Daily Telegraph. Beitrag vom 21.06.2018. Online unter: https://www.telegraph.co.uk/technology/2018/06/20/instagram-hits-1-billion-users-launches-video-service-rival/ (Stand: 12.07.19)
[13] Lindner, Rolf: Die Entdeckung der Stadtkultur: Soziologie aus der Erfahrung der Reportage. Frankfurt a. M./New York 2007, S. 322 f.