von S. H.
Für viele ist die Social Media-Plattform Instagram ein Ort ästhetischer Darstellungen und Wahrnehmungen. Täglich werden Bilder gemacht, hochgeladen und angeschaut. Doch wann und wie fotografiere ich etwas und teile es auf Instagram mit anderen Menschen? Auf welches Wissen greife ich dabei zurück? Wie wird Regionalität durch Bildpraktiken auf Instagram kulturell repräsentiert? Um dies zu erfahren haben sich meine Forschungspartnerin und ich uns in das Ruhrgebiet nach Essen begeben. Dort besuchten wir die Margarethenhöhe und die Innenstadt. Wir legten uns jeweils einen Instagram-Account zu und fotografierten, sobald wir einen Impuls verspürten, dies zu tun. Im Anschluss darauf posteten wir das Foto direkt. Dies geschah parallel: Sobald meine Partnerin ein Foto aufnahm, hielt ich fest, wie und was fotografiert wurde und fragte nach ihren Beweggründen. Zudem fragte ich mich auch selbst, worauf ich vor dem Fotografieren geachtet hatte und was ich damit wie vermitteln oder festhalten wollte. Nach diesen Beobachtungen führte ich ein Interview mit meiner Forschungspartnerin, um den Prozess vom Foto bis zum Upload nachzuvollziehen.
Wissen, Lernen und Repräsentation: Wissenspraktiken und Lernprozesse
Aus einem Bild alleine kann nicht abgelesen werden, welches Wissen hinter der Produktion des Fotos liegt. Nach Lave und Wenger entsteht Wissen in „Communities of Practice“[1], in Gruppen, die durch Interaktion voneinander lernen. Das Erlernen von Wissen geschieht durch soziale Praktiken, welche wiederum an soziale Ordnungen geknüpft sind. Die soziale, materielle und kulturelle Umgebung sind verantwortlich dafür, wie die Akteur*innen agieren und wie der Prozess des Lernens verläuft. Dabei wird jedoch nicht nur Wissen weitergegeben, sondern auch reproduziert, erneuert und transformiert. Der Praxis des Fotografierens geht also ein Lernprozess voraus, der den Umgang mit Technik, die ästhetische und visuelle Gestaltung, die Auswahl der Motive und ihre Einordnung in repräsentative Kontexte formt und in der Praxis beobachtbar wird.[2]
Die Beziehung zwischen Mensch und Smartphone
Der Psychologe James Gibson prägte den Begriff „affordances“[3], der die komplementären Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt bzw. Umgebung bezeichnet. Allerdings ist hier nicht die Interpretation des Subjekts über das Objekt gemeint, sondern die gegenseitige Beeinflussung der beiden Elemente. Es besteht ein gewisser Austausch zwischen ihnen.[4] Donald A. Norman führte Gibsons Ansatz weiter, ihm zufolge kann die Beeinflussung, je nach kulturellem Kontext und entsprechenden Verhaltensnormen, sowie den Eigenschaften von Subjekt und Objekt, variieren.[5] Im deutschen Wortgebrauch wird anstatt des englischen Begriffes meist Affordanzen oder Aufforderungscharakter verwendet. Letzterer verdeutlicht die komplementäre Beziehung. Ein Gegenstand ist an die physischen Eigenschaften und Bedürfnisse des Menschen angepasst. Zugleich fordert das Objekt einen Menschen dazu auf, es in gewisser Weise zu verwenden. Sei es beispielsweise ein Lichtschalter, der betätigt wird oder ein Smartphone mit Kamera, das deshalb auch als Fotoapparat genutzt werden kann.[6] Diese Aufforderung erfuhr ich anhand meiner Forschung selbst. Da ich Fotos mit dem Smartphone aufnahm, konnte ich die Fotos im direkten Anschluss mit der Software bearbeiten und posten. Ich beschränkte mich bei der Bearbeitung allerdings nur auf das Anpassen der Helligkeit und der Sättigung, wenn Bedarf dafür bestand. Meine Motivation bestand darin, die Fotos ansprechender zu gestalten. Erst nach eigener Reflexion wurde mir deutlich, dass ich dies entsprechend der Normen tat, die ich durch die Verwendung der App Instagram und der Interaktion mit anderen Nutzer*innen erlernt habe. Ich möchte so posten, wie es in dieser Community üblich ist. Die Bilder besitzen alle eine gewisse Helligkeit und Schärfe. Sobald ich beispielsweise ein dunkles Bild aufgenommen hatte, welches ich durch Bearbeitung nicht „retten“ konnte, habe ich es als unpassend für Instagram gewertet und gelöscht.
All dies prägt die Voraussetzungen für die Fotopraxis, aber auch für Lern- bzw. Wissenspraktiken allgemein. Denn in diesen Subjekt-Objekt-Konstellationen entstehen Bedeutungen, die transformiert und weitergegeben werden.
Ästhetik als tradierte Wissenspraxis
Der Begriff Ästhetik bezeichnet alle Empfindungen, die der Körper, ob bewusst oder unbewusst, wahrnimmt.[7] Ästhetisch ist demnach alles, was unsere Sinne bewegt, wenn wir es betrachten, darunter auch das subjektiv Schöne. Im Alltag wird der Begriff ästhetisch oftmals als Synonym für schön verwendet.
„Schönheit“ ist eines von vielen Werturteilen, die in Ästhetik-Theorien analysiert und auf ihren Anspruch geprüft werden. Dabei gibt es drei Dimensionen. Die erste Ebene umfasst die ästhetische Erfahrung der Rezipient*innen, die das Wahrgenommene als schön beurteilen. Die zweite Dimension bezieht sich auf die Produktion des Schönen, die Produzent*innen kreieren ein Objekt, auf das sich diese Zuschreibung beziehen soll. Die letzte Ebene bezieht sich auf die Diskussionszusammenhänge, die sich durch ästhetische Phänomene ergeben.[8] Die Rezeption und die Produktion von als ästhetisch schön beurteilten Wahrnehmungen und Fotos für Instagram ist ebenso aus kulturanthropologischer Perspektive ein interessantes Untersuchungsfeld: Wie teilen und produzieren Menschen gleiche oder ähnliche ästhetische Erfahrungen über Medien?
Die Produktion „schöner“ Bilder
Mir fiel auf, dass die beobachtete Person vor allem dann Fotos machte, wenn das Objekt einer ästhetischen Vorstellung entsprach, wie sie mir im Interview erzählte:
„Also es muss schon irgendwie schön aussehen. Es muss einem schon gefallen. Und meistens mag ich halt, was irgendwie süß ist – oder irgendwie schöne Farben hat“.[9]

Meine Partnerin hielt also „schöne“ Eindrücke fest. Sie fotografierte beispielsweise einen blühenden Kirschbaum, weil die Blüten ihrer Ansicht nach eine schöne Farbe hatten. Aber auch Mülltonnen, die mit Blumenfotos bedruckt waren, wählte sie als Motiv. Die ästhetischen Vorstellungen, nach denen sie ihre Fotopraxis ausrichtete, lassen sich als gemeinsame Bedeutungsbestände einer „community of practice“ verstehen: ungeschriebene „Regeln“, nach denen einem klar wird, wie und warum welches Motiv „irgendwie schön“ aussieht. In diesem impliziten Wissen[10] werden ästhetischen Normen tradiert, und über Instagram täglich millionenfach reproduziert. Der existierende Fotobestand auf dieser Plattform schreibt dadurch wiederum in gewisser Weise vor, wie ein Instagram-Bild auszusehen hat, also welches farbliche Spektrum, welche Motive dargestellt werden können, um „einem zu gefallen“ und ansprechend oder „irgendwie süß“ zu sein. Das Betrachten und Produzieren von Posts der Instagram-Nutzer*innen und die damit verbundenen Technik- und Softwareaffordanzen sind Teil einer spezifischen „community of practice“.

Das Foto selbst muss dieses Wissen über die Ästhetik repräsentieren und dementsprechend handwerklich gut ausgeführt, ansprechend komponiert oder anderweitig eindrucksvoll (z.B. durch eine besondere Motivwahl) sein. Meine Partnerin stellte nach Befragung fest, dass sie verschiedene Kriterien beachtete, um ein ästhetisch angemessenes Foto aufzunehmen. Sie achtete auf eine bestimmte Perspektive, in dem das fotografierte Objekt mittig zentriert stand. Zudem sollten die Farben im Foto lebendig wirken. Außerdem erklärte sie, dass sie so oft ein Foto aufnehme, bis sie davon überzeugt sei, einen guten Winkel ausgewählt zu haben. In diesen Praktiken des „learning by doing“ wiederholt sie den Fotografierprozess so oft, bis das Produkt den normierten Kriterien der Instagram-Community entspricht.
Repräsentation des Ruhrgebiets?
Die Welt und die Objekte als ein Teil von ihr haben selbst keine Bedeutung, diese werden in sozialen Interaktionen konstruiert. Über Repräsentationen (re-)produzieren wir kulturelle Bedeutungen von gedanklichen Konzepten: beispielsweise durch unsere Sprache.[11] Die Verbindung zwischen diesen Konzepten und der Sprache erlaubt es, sowohl der realen Welt und den in ihr existierenden Objekten, Personen und Ereignissen, als auch abstrakten Vorstellungen Bedeutungen zuzuschreiben.[12] Repräsentationen transportieren und vermitteln somit Bedeutungen. Um sie zu entziffern, wird ein Code genutzt, sowohl von der ausdrückenden Person als auch von der „lesenden“ Person. Die Codes beider Personen müssen jedoch nicht identisch sein.[13]
Einer meiner grundlegenden Fragen war, wie Regionalität in Fotopraktiken für Instagram repräsentiert wird. Auffällig bei der Teilnehmenden Beobachtung war, dass sowohl meine Partnerin als auch ich ein gewisses inneres Vorstellungsbild, ein inneres Konzept, vom Ruhrgebiet hatten. Ich dachte an triste graue Gebäude, an die Schwerindustrie und suchte zunächst unbewusst nach Motiven, die dies widerspiegelten. Die tradierten Vorstellungen über das Ruhrgebiet haben wir in Interaktion, beispielsweise durch mediale Repräsentationen oder Erzählungen erlernt.
„Also wir waren ja in der Margarethenhöhe. Und die Häuser, die da alle stehen sind ja irgendwie – sag ich mal – mit der Ruhrpottkultur irgendwie verbunden. Und das ist halt schon die ganze Gegend da, die halt dafür steht. Ich habe zum Beispiel auch von Krupp zwei Sachen fotografiert, weil ich schon dachte, dass es dafür steht“.
Durch die ihr bekannten Repräsentationen des Ruhrgebiets nahm meine Interviewpartnerin dementsprechend diese Vorstellungen auf und spiegelte das Bekannte wieder. Krupp ist hier im übertragenen Sinne das Symbol, und der industrielle Kontext Essens der Code. Dadurch, dass sie Krupp darstellt, repräsentiert sie gleichzeitig die Industrie. Auch ich nahm Fotos auf, die meines Erachtens nach charakteristisch für das Ruhrgebiet sind. Ich machte beispielsweise ein Foto von der Rückseite eines Autos mit der Aufschrift „Ruhrpott Cruiser“, weil es für mich die Verbundenheit des Autofahrers zum Ruhrpott zeigte und dies in meinen Augen den stereotypen Regionalstolz des Ruhrgebiets widerspiegelt.

Auch bestimmte erlernte Symboliken, wie das Grau der Kohle, hat den Fotoprozess meiner Partnerin indirekt beeinflusst, wie es in unserem Interview deutlich wurde. Ohne eine bewusste Intention integrierten wir diese Symbolik in unserem Fotoprozess. Meine Partnerin hielt auch ihrer Meinung nach Ruhrgebiet-Untypisches fest. Die Symbolik der „typischen“ Repräsentationen ist dem Lernprozess der „communities of practice“ entsprechend ausschlaggebend für neue, transformierte Repräsentationen.

„Ich denke vom Ruhrgebiet immer halt so ein bisschen grau und an viele Menschen. Und dann war das ja so eher das Gegenteil. Dass da eben keine Menschen waren. Und es war halt viel Grün. Und da mag ich auch so etwas Gegenteiliges.“
Relevanz der Wissenspraxis für die Fotoproduktion
Diese Wissenspraktiken konnte ich während des teilnehmenden Fotografierens nachvollziehen. Unhinterfragtes Wissen im Umgang mit dem Smartphone und Instagram wurde durch die Betrachtung der situativen Affordanzen nachvollziehbar. Aber auch tradiertes Wissen über Ästhetik und regionale Stereotype fand seinen Niederschlag in den Praktiken des Fotografierens. Wir hielten „schöne“ Wahrnehmungen auf unseren Fotos fest und versuchten sie wiederum möglichst schön und Instagram-gerecht für andere Nutzer*innen zu gestalten. Das Wissen, das als „typisches“ Ruhrgebiets-Wissen gesehen werden kann, und der Umgang mit der App, den wir uns im Laufe unserer Lernprozesse angeeignet hatten, bedingte unsere Bildproduktion. Mein Blick unter die „Oberfläche“ eines auf den ersten Blick banalen Vorgangs von Instagram-Foto-Postings zeigte mir, wie komplex eigentlich die Zusammenhänge zwischen Wahrnehmung, Wissen und Repräsentation sind.
[1] Vgl. Lave, Jean/Wenger, Etienne: Situated Learning. Legitimate Peripheral Participation. Cambridge 1991.
[2] Vgl. Barth, Manuela: Kollektive Visualisierungen in Fotocommunities. München 2016, S. 56-60.
[3] Vgl. Gibson, James. J.: The Senses Considered as Perceptual Systems. Boston 1966.
[4] Vgl. Barth, Manuela: Fotocommunities (2016), S. 89-91.
[5] Vgl. ebd.
[6] Vgl. Gibson, James. J.: Senses (1966).
[7] Vgl. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Aesthetica. Erster Band [1750]. In: M. Schüller (Hg.): Texte zur Ästhetik. Eine kommentierte Anthologie. Darmstadt 2013, S. 20-24.
[8] Vgl. Thies, Christian Dr.: Proseminar. Schönheit, was ist das? Universität Passau 2003/2004. Online veröffentlicht unter: https://www.phil.uni-passau.de/fileadmin/dokumente/lehrstuehle/thies/online-_AEsthetische_Argumente.pdf (Stand: 20.07.2019).
[9] Interview vom 04.04.2019.
[10] Vgl. Polyani, Michael: The Tacit Dimension. Chicaco/London 2009.
[11] Vgl. Hall, Stuart: The Work of Representation. In: Ders. et al. (Hg.): Representation: Cultural Representations and Signifying Practices. London 2013 [1997], S. 1-74.
[12] Vgl. ebd., S. 29.
[13] Vgl. Barth, Manuela: Fotocommunities (2016), S. 22.
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