Bilder des Wandels: Von der Schwerindustrie zum Naherholungsgebiet

von Brian

Der Transformation des Ruhrgebietes von der Schwerindustrieregion hin zu einer touristisch genutzten Kulturregion liegen viele Faktoren und Entwicklungen zugrunde. Die frühe Kohlekrise und die aktuelle Energiewende in Deutschland führten zu einem landschaftlichen sowie gesellschaftlichen Strukturwandel. Bergwerke, Zechen und Kohleanlagen wurden stillgelegt und teilweise als touristische Sehenswürdigkeiten neu entdeckt. Aus Halden wurden Zentren der Naherholung, das Ruhrtal dient heute als Wander- und Radfahrregion („RuhrtalRadweg“) und ehemalige Industrieanlagen füllen als umfunktionierte Eventlocations die Veranstaltungskalender der Städte.[1] Die Ruhr Tourismus GmbH (RTG) gestaltet hier als wichtiger und einflussreicher Akteur das Programm sowie die Vermarktung dieses transformierten Ruhrgebietes. Mit Hashtags wie #meinruhrgebiet, #kultruhr und #meinradrevier tritt die RTG auf Instagram in die Interaktion mit Bewohner*innen sowie Tourist*innen und liefert ebenso auf anderen Plattformen eine markante visuelle Repräsentation dieses neuen Reisezieles. Auch die Marketingstrategie 2017-2022 der RTG verdeutlicht anhand wiederkehrender Elemente in ihren Bild-Text-Kompositionen den Wandel des Ruhrgebietes von einer tristen Industrieregion zu einer touristischen Freizeitgegend. Besonderes Interesse erweckt dabei die Präsentation des Ruhrtales als Fahrradidyll sowie die verwendeten Bilder im Netz.

Rolf Lindner beschrieb schon 1994, wie die ‚Scham‘ vor der eigenen Vergangenheit das Ruhrgebiet seines Erachtens prägte. Mit dem Begriff dieser ‚Scham‘ im Hinterkopf wirft die mediale Darstellung des Ruhrgebietes einige interessante Fragen auf: Wie wird heute die regional-spezifische Vergangenheit der Schwerindustrie repräsentiert? Welcher Platz wird der Vergangenheit im Wandel zur touristischen Region eingeräumt? Anhand der visuellen Repräsentation lassen sich diese Fragen genauer beleuchten.

Die „Scham“ des Ruhrgebietes

In seinem „Ethos der Region“ (1994) spricht Rolf Lindner von einem „Makel“, einer durch „Scham“ gekennzeichneten Haltung des Ruhrgebietes zu sich selbst sowie „montanindustrielle[r] Altlast“. In diesem Kontext bezieht er sich jedoch auf die „politische Klasse“, die sich wegen der eigenen, regionalen Vergangenheit schämt. Nicht den Bewohner*innen selbst wird eine Scham unterstellt, vielmehr sind es die Akteur*innen in Politik und Öffentlichkeit. Beleuchtet man in diesem Kontext die Darstellungen des RTG-Marketingplans, so lassen sich zweifelsohne Parallelen ziehen. In kurzen Vorworten ist die Rede von nachhaltiger Verbesserung, „von der grauen Industrieregion zur erfolgreichen Tourismusdestination“ und schließlich sogar von einer „Versöhnung zwischen Region und Natur“. Die vergangene Schwerindustrie wird wahrgenommen, sie ist präsent und wird vermarktet: „Das Ruhrgebiet ist kein klassisches Reiseziel, und seine montanindustrielle Vergangenheit ist weiterhin spürbar und sichtbar – für das regionale Tourismusmarketing ist dies eine große Chance: „In punkto Industriekultur und Tourismus sind wird das Original […].“[2] Rolf Lindner sprach 1994 noch von einer „schwerindustriellen Hypothek […], die es abzutragen, nicht aufzuarbeiten gilt.“[3] In diesem Sinne steht das touristische Marketing der RTG konträr zu Lindners ‚Ethos‘. Die Industriekultur wird angenommen, nimmt Teil am sogenannten Transformationsprozess und bekommt einen konkreten Platz in der visuellen Verarbeitung des neuen Reisezieles Ruhrgebiet zugewiesen.

Mit diesem Fokus auf die visuellen Präsentationen findet sich sowohl auf Instagram als auch auf der Homepage der RTG und anderen digitalen Plattformen eine wiederkehrende Bildsprache. Die alten Industrieanlagen bleiben größtenteils wichtiger Bestandteil der Darstellung. Rötlich-grau-braune Farben kennzeichnen die für das Ruhrgebiet so typischen Essen und Fördertürme, durchzogen von endlosen Rohrsystemen. Keineswegs jedoch zeichnen die Instagramfotos und Werbebilder eine graue Industrieregion nach. Vielmehr rücken nun das Fahrrad und satt-grüne Naturlandschaften in den Vordergrund. Das Vergangene liegt zurück bzw. im Hintergrund. Aus dreckig-dampfenden Schwerindustriebetrieben sind verschlafene Denkmäler aus einer anderen Zeit geworden, die ihre letzte Ruhe nun eingebettet in einer lebenswerten Naherholungslandschaft finden.

Zeichen des Vergangenen

Auf der analytischen Ebene können klare Botschaften in den Bildern und v.a. in der Komposition der Fotografien erkannt werden. Neuere Strömungen der visuellen Anthropologie (u.a. Sarah Pink, John Urry) verstehen Bilder nicht mehr nur als Zeichenträger, sondern beziehen auch alltägliche Praktiken mit ein und verweisen zudem auf das Situative der Bedeutungszuschreibung.[4] Meine später beschriebene, eigene Wahrnehmung des Ruhrtales als Fahrradregion soll diese Entwicklungen grob veranschaulichen. Zunächst bediene ich mich jedoch der deutlich älteren Bildtheorie von Roland Barthes.[5] Er unterscheidet zwischen der nicht-kodierten (denotierten) Botschaft und der kodierten (konnotierten) Botschaft. Die dritte Ebene stellt die sprachliche Botschaft dar (z.B. bei Bild-Text-Hybriden). Botschaft(en) finden sich auch in den visuellen Repräsentationen der RTG.

Abbidung 2: © Ruhr Tourismus GmbH: Marketingstrategie 2017-2022, S. 42.

Als hilfreich erweist sich hier die Verwendung der Begriffe Signifikat und Signifikant. Diese sind eigentlich im Bereich der strukturalistischen Linguistik angesiedelt und wurden hauptsächlich von Ferdinand de Saussure geprägt, was schließlich die Grundlage für Roland Barthes‘ Überlegungen bildete. Ein Signifikant ist das objektiv Dargestellte, in der Linguistik die Buchstaben und Buchstabenkompositionen, auch Lautbild genannt.[6] Für die hier relevante Bildanalyse stellt der Signifikant ganz trivial das Bild an sich dar, sprich die wertfrei sichtbaren Elemente und Objekte (hier ganz grob: Industrieanlage, Sträucher und Wiesen, Radweg, Fahrräder). Das Signifikat meint eigentlich die Vorstellung, die Idee, den Inhalt eines Wortes. Auf das Bildverständnis bezogen könnte hier jedoch das Signifikat als die Assoziation bzw. die subjektive Konnotation bei der Betrachtung der Fotografien verstanden werden [hier: Transformation, stillgelegte Industrie, Strukturwandel, ‚neues Reiseziel‘]. Roland Barthes zufolge spielt bei dieser Kodierung das Wissen des*der Betrachter*in eine zentrale Rolle.

Abbildung 3: © Ruhr Tourismus GmbH: Marketingstrategie 2017-2022, S. 38.

Ohne ein eigenes Vorwissen zum Ruhrgebiet könnte man auch vermuten, es handele sich nur zufällig um eine stillgelegte Zeche oder der Radweg sei nur ein beliebiges Stück Asphalt in einer ohnehin stark urbanisierten Region. Erst durch das Wissen und die Erfahrung des*der Betrachter*in wird die zuvor genannte Konnotation möglich. Die RTG kann sich auf dieses Vorwissen berufen und so klare Botschaften in ihren visuellen Darstellungen liefern. Nimmt man noch die von Barthes formulierten Zeichen auf, so dringen die Industrieanlagen als Zeichen für das Vergangene auch in den Hintergrund, während das Fahrrad, als Signifikat für das ‚Neue‘, im Vordergrund steht. Die Botschaft des Bildes suggeriert eine Zeitleiste, als Signifikat für die Transformation des Ruhrgebietes.

Der „RuhrtalRadweg“

Eine frühsommerliche Wahrnehmungs-Fahrradtour (analog zum Wahrnehmungsspaziergang) im Mai 2019 entlang des RuhrtalRadweges von Essen-Steele bis zur Henrichshütte Hattingen bestätigt diese Assoziationen. Die stillgelegten Industrieanlagen – von der Zeche Wohlverwahrt, über die zum Gasthaus umfunktionierte Birschel-Mühle, bis hin zum Industriemuseum Henrichshütte – prägen eindrucksvoll den kilometerlangen RuhrtalRadweg. Während die Mosel mit steilen Weinhängen auftrumpft, der Rheinradweg an dutzenden Burgen vorbeiführt, so bleiben dem Ruhrgebiet und dem dazugehörigen Ruhrtal die Hinterlassenschaften der westdeutschen Schwerindustrie als Alleinstellungsmerkmal. Die Industrieanlagen entlang des Ruhrtales bilden markante Wegpunkte. Passiert man das Wasserkraftwerk Horster Mühle direkt neben der Zeche Wohlverwahrt, tauchen schon die drei unübersehbaren Essen einer noch aktiven Produktionsstätte auf der anderen Flussseite auf. Es folgen die Villa Vogelsang des gleichnamigen Großindustriellen, mehrere Staustufen, der eindrucksvolle Förderturm der Zeche Ruhrtal 1 und schließlich das Wehr bei Hattingen. Den Abschluss dieser rund 20 Kilometer langen Tour bilden die schon genannte Birschel-Mühle, ursprünglich eine Getreidemühle mit einem heute noch aktiven Wasserkraftwerk, sowie schließlich die Henrichshütte Hattingen, in welcher das Industriemuseum des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) beheimatet ist.

Abbildung 4: Wasserkraftwerk Horster Mühle neben der ehemaligen Zeche Wohlverwahrt am RuhrtalRadweg. Eigene Aufnahme.

Zweifelsohne prägen diese Bauwerke das Ruhrtal. Doch statt einer tristen Industrielandschaft findet sich der*die Fahrradfahrer*in tatsächlich in einer blühenden Naturlandschaft wieder. Der gut ausgebaute und ausgeschilderte Fahrradweg verläuft meist nur einen Meter neben dem Fluss. Grüne Sträucher und Wiesen prägen über den gesamten Flusslauf beidseitig das Flussufer. Dutzende Enten nisten mit ihrem Nachwuchs am Wegesrand oder liegen auf den streng umzäunten Wasserschutzzonen, die teilweise über mehrere Kilometer Radweg angelegt sind. Das Ruhrtal als Naherholungsgebiet wird seiner Beschreibung gerecht, die vereinzelten Industriebauwerke rücken sowohl visuell als auch gedanklich in den Hintergrund. Die subjektive Konnotation von Ruhrgebiet und Schwerindustrie findet in diesem kleinen Paradies keinen Platz mehr. Das durch die mediale Vermarktung entstandene Bild des touristischen Ruhrgebietes wird der eigenen Erfahrung gerecht.

Abbildung 5: Ruhrwehr und Birschel-Mühle bei Hattingen. Eigene Aufnahme.

Rolf Lindner schließt mit einem Verweis zu Lutz Niethammer (1984): „Nur die bewußte Annahme der Geschichte aber, nicht die Scham über die Herkunft (der Region […]), läßt die Gewinnung einer Identität im Rahmen des ökonomischen Umbaus zu.“[7] Der Umbau meint auch die hier beschriebene Transformation des Ruhrgebietes. Für Tourist*innen scheint die Vergangenheit nur noch eine Statistenrolle entlang der Fahrradwege im Ruhrgebiet einzunehmen. Eine andere Frage wäre, wie die Bewohner*innen nun selbst sowohl die visuelle Repräsentation als auch den in der Realität sichtbaren Wandel ihres Ruhrgebietes wahrnehmen. Mit Akteur*innen wie der Ruhr Tourismus GmbH und deren Bestrebung eines Imagewandels erscheint das lang verschmähte Ruhrgebiet zumindest medial sowie für den Außenstehenden in einem neuen Licht. Und dies nicht zuletzt auch durch die visuelle Repräsentation dieses ‚neuen Reisezieles‘.


[1] Vgl. Krajewski, Christian: Metropole Ruhr – Wandel durch Freizeit, Kultur und Tourismus. In: Praxis Geographie 2 (2017), S. 10-15. Vgl. auch Scheytt, Oliver/Domgörgen, Christine/Geilert, Gisela: Kulturpolitik – Eventpolitik – Regional Governance. Zur Regionalen Aushandlung von Events am Beispiel der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010. In: Gregor Betz/Ronald Hitzler/Michaela Pfadenhauer (Hg.): Urbane Events. Wiesbaden 2011, S. 297-317.
[2] Ruhr Tourismus GmbH: Marketingstrategie 2017-2022 der Ruhr Tourismus GmbH. Online unter: https://www.ruhr-tourismus.de/fileadmin/user_upload/ruhr-tourismus/Dokumente/RTG17_Marketingplan.pdf (Stand 16.06.2019), hier S. 46.
[3] Lindner, Rolf: Das Ethos der Region. In: Ders. (Hg.): Die Wiederkehr des Regionalen. Über neue Formen kultureller Identität. Frankfurt a. M. 1994, S. 201-231, hier S. 225.
[4] Vgl. Pink, Sarah: Multimodality, Multisensoriality and Ethnographic Knowing: Social Semiotics and the Phenomenology of Perception. In: Qualitative Research 11/3 (2011), S. 261-276. Vgl. auch Urry, John/Larsen, Jonas: The Tourist Gaze 3.0. London 2011.
[5] Barthes, Roland: Rhetorik des Bildes. In: Ders. (Hg.): Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt a. M. 1967.
[6] Kuester, Martin: Art. Signifikant (frz. Signifiant) und Signifikat (frz. Signifié). In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 4. aktualisierte und erweiterte Aufl. Stuttgart u.a. 2008, Sp. 657-658.
[7] Lindner: Ethos der Region (1994), S. 225.